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No one in the world ever gets what they want and that is beautiful: Three Thousand Years of Longing ist vielleicht mein liebster George-Miller-Film

Ich würde nicht behaupten, dass Three Thousand Years of Longing George Millers bester Film wäre — manchmal ist die offensichtliche Antwort die richtige, Fury Road ist the one to beat. Aber Three Thousand Years of Longing ist der Film Millers, an den zu denken in mir die wärmsten Gefühle auslöst, über den ich mich regelmäßig freue, dass er überhaupt existiert. Es ist einer dieser Filme, die sich anfühlen, als würde man dem Filmemacher zuschauen, wie er vor laufender Kamera das Studio ausraubt: Es muss Miller klar gewesen sein, dass ein solcher Film nicht zu vermarkten ist, dass er hier im Grunde Geld verbrennt, aber irgendwie hat er dennoch ein Studio überzeugt, dieses seltsame, unkommerzielle, schwer zu kategorisierende passion project zu finanzieren.

Three Thousand Years of Longing, für diejenigen, die ihn bislang verpasst haben (aka die meisten), erzählt von Alithea (Tilda Swinton), einer britischen »Narratologin«, die, während einer Konferenz in Istanbul eine alte Glasflasche kauft, in der, stellt sich heraus, ein Djinn steckt. Der Djinn (Idris Elba) gewährt ihr drei Wünsche, doch Alithea, vertraut mit unzähligen Sagen und Geschichten über erfüllte Wünsche, zögert, ihre Wünsche einzulösen, aus Angst vor unbeabsichtigten Konsequenzen. Der Djinn, für den die Erfüllung der Wünsche die Freiheit bedeuten würde, versucht Alithea zu überzeugen, indem er ihr seine Jahrtausende umfassende Geschichte erzählt.

Wenn man so will ist Three Thousand Years of Longing George Millers Version eines Richard-Linklater-Films: Für den Großteil des Films führen Alithea und ihr Djinn die Sorte ausschweifende, philosophische Diskussion, die Filme Linklaters wie die Before-Trilogie oder Waking Life antreibt. Sie reden über Geschichtenerzählen, Sehnsucht, Liebe — die ganz großen Themen, und sie tun das mit derselben entwaffnenden Naivität, die Linklaters Figuren oft haben, als hätte noch nie jemand über diese Themen geredet.

Aber Miller wäre nicht Miller, würde er nicht einen Weg finden, auch diesen eher statischen Plot mit seinem patentierten Maximalismus zu inszenieren. Die Geschichten des Djinn sind opulent bebildert, in leuchtenden Farben — ein erfrischender Kontrast zum Trend zu entsättigtem Color-Grading, der das aktuelle Mainstream-Kino prägt. Wie in der Mad-Max-Reihe arbeitet Miller mit Andeutungen, füllt seine Bilder mit surrealen visuellen Ideen, die er bewusst unerklärt lässt. Wie die Mad-Max-Reihe haben diese Sequenzen, vom Voice-Over des Djinn abgesehen, minimalen Dialog.

Der Effekt ist allerdings nicht ganz derselbe wie bei Mad Max: In Mad Max schafft Millers Art des Worldbuilding das Gefühl einer bewohnten, lebendigen Welt, einer, in der jedes Element, jede Figur seine Geschichte hat und die größer ist, als das, was wir sehen; hier fügt sich — vielleicht, weil die Ideen entrückter, surrealer sind, vielleicht wegen dem digitaleren, cleaneren Look, der auch eine gewisse uncanniness hat — nicht alles so sauber zusammen, und ich glaube, das ist so beabsichtigt. Alles macht hier ein Bisschen weniger »Sinn« — der Plot arbeitet mit Auslassungen oder hastet durch Erklärungen, als wollte Miller uns sagen »just go with it«, die Settings und Locations sind eher skizziert als wirklich ausgearbeitet —, und all das gibt den Geschichten des Djinn eine traumähnliche Logik. Miller wechselt gelegentlich auch recht abrupt die Tonalität, von leichtfüßiger, quirky Romanze bis zu Horror, was einer der Gründe ist, warum Three Thousand Years of Longing im Grunde unmöglich zu vermarkten war, aber den Film auch konstant überraschend und abwechslungsreich macht.

Auf einer Ebene ist Three Thousand Years of Longing ein typisches Alterswerk: Ein Großmeister des Mediums erzählt eine Geschichte über die Bedeutung von Geschichten. Solchen Werken stehe ich grundsätzlich skeptisch gegenüber, aber ähnlich wie Spielberg in The Fabelmans sieht Miller das Thema mit einer gesunden Ambivalenz, und geht weit über eine »Liebeserklärung an das Geschichtenerzählen« oder was auch immer hinaus. Alithea, wie Sammy Fabelman, ist so in ihrer Welt des Geschichtenerzählens verloren, dass sie Gefahr läuft, darüber zu vergessen, noch ein eigenes Leben zu führen. Und zum Leben gehört, scheint der Film nahezulegen, Wünsche, Sehnsüchte zu haben, gerade auch unerfüllte.

Um eine letzte Referenz zu bringen, Three Thousand Years of Longing erinnert mich auch an das Spätwerk der Wachowskis, besonders Cloud Atlas. Three Thousand Years of Longing ist ähnlich (über-)ambitioniert, ähnlich bereit, große Risiken einzugehen, und entsprechend auch ähnlich polarisierend. Er trifft durchaus einige Entscheidungen, die ich fragwürdig finde. Aber er ist auch ähnlich persönlich und offenherzig wie der Wachowski-Film, und wenn ein so großer Filmemacher wie Miller spät in seiner Karriere nochmal einen solchen big swing macht, so viel von sich selbst in sein Werk steckt und sich dabei so angreifbar macht, kann ich nicht anders, als das charmant und berührend zu finden, und froh zu sein, dass Miller sich irgendwie die Chance erschlichen hat, diesen seltsamen Film machen zu dürfen.

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Die Wookiepedia-isierung des Mad-Max-Universums: Furiosa: A Mad Max Saga

Vielleicht ist Furiosa George Millers one for them. Die Sorte Film, die man macht, wenn man vermeiden will, aus Hollywood exkommuniziert zu werden, nachdem man zuerst Mad Max: Fury Road und dann den unvermarktbaren Three Thousand Years of Longing gemacht hat. Das würde erklären, warum Furiosa ein Film der Kompromisse ist: zwischen dem visuellen, kinetischen, nahezu wortlosen Erzählen des Vorgängers und dem konventionelleren alles-muss-ausbuchstabiert-werden Erzähltemplate des aktuellen Blockbuster-Kinos; zwischen den praktischen Effekten und on-location Stunts, für die die Reihe bekannt ist, und der mittels Greenscreen und CGI realisierten Action moderner Studio-Franchises.

George Miller erzählt die Geschichte des Films natürlich anders: Die Idee eines Prequels entstand während der Arbeit an Fury Road, das Drehbuch schrieben Miller und Co-Autor Nick Lauthoris basierend auf der Backstory, die sie sich damals für die Figur von Imperator Furiosa überlegt hatten, und eine erste Fassung war schon vor Drehbeginn von Fury Road fertig. Ursprünglich sollten beide Filme back-to-back realisiert werden. Miller begann ja auch schon früh, öffentlich über ein mögliches Spin-off über Furiosa zu reden.

Das macht insofern Sinn, als dass Furiosa die Art Hintergrundgeschichte erzählt, die sicher irgendwie nützlich ist für Autor*innen und Schauspieler*innen, um ihre Charaktere besser zu verstehen, aber mit der man jetzt nicht unbedingt das Publikum belasten muss. Die Art Geschichte, die George Miller in der Vergangenheit auf ein, zwei Bilder runtergebrochen hätte. Erinnert ihr euch an diese flashbackartig aufblitzenden Visionen, die Max in Fury Road hatte, von einem jungen Mädchen, das überfahren wird, das nach Max’ Hilfe ruft? Erinnert ihr euch, wie wir damals spekuliert haben, wer diese Figur sein soll, an deren Tod Max sich da erinnert (Max’ Kind? Aber damals, im ersten Mad Max, hatte Max keine Tochter, sondern einen Sohn, der auch noch viel jünger war als dieses Kind und anders gestorben ist)? Erinnert ihr euch, wie wir uns damals alle irgendwie geeinigt haben, dass es am Ende egal ist, wer genau diese Figur ist, dass das wichtige die Emotion ist, die in diesen sekundenkurzen Bildern transportiert wird, dass die Offenheit vielleicht sogar zum mythenhaften Charakter der Figur Max Rockatansky und des Mad-Max-Universums beiträgt? Gerade angesichts der Wookiepedia-isierung filmischen Erzählens, der Tendenz aktuellen Blockbuster-Kinos, jeder egalen Nebenfigur eine Backstory geben, jedes Motiv erklären zu müssen, ist Fury Roads Verweigerung solcher Erklärungen erfrischend.

Aber wusstet ihr auch, dass es eine Erklärung gibt? Vertigo veröffentlichte eine vierteilige Comic-Reihe zu Fury Road, geschrieben von Miller, Lathouris und Mark Sexton, die die Vorgeschichte zu einigen Figuren des Films erzählt. Unter anderem füllt sie die Lücke zwischen Mad Max: Beyond Thunderdome und Fury Road, und erklärt dabei, woran Max sich in seinen Fury-Road-Flashbacks erinnert. Ich werde das hier nicht wiedergeben, denn die Antwort ist, erwartungsgemäß, uninteressant. Sie fügt den Flashbacks emotional nichts hinzu, sie ist weder sonderlich überraschend noch befriedigend, und sie beendet jegliche Spekulation in interessantere Richtungen. Es war eine brillante Entscheidung Millers, die Erklärung aus Fury Road zu lassen und Max’ jüngere Backstory auf einzelne Bilder zu reduzieren.

Man ahnt, worauf ich hinauswill: In Furiosa lässt Miller die Erklärung nicht weg. Hier hat jedes Bild eine auserzählte Geschichte, und das nimmt Millers Welt einiges ihrer Magie, und dem Film an Tempo.

Es ist eine Sache, dass Furiosa einiges ausbuchstabiert, das in Fury Road nur angedeutet war. Das ist halt irgendwie das Wesen eines Prequels — ich bin kein Fan davon, aber wusste, worauf ich mich einlasse. Furiosa geht ins Detail über die Welt von Fury Road, erklärt ausführlich die Verhältnisse zwischen den drei »Fortresses of the Wasteland«: die von Immortan Joe geführte Citadelle, Benzinlieferant Gastown, und die Bullet Farm. »Mehr Information« bedeutet aber nicht zwangsweise »interessanter«, und die Welt von Furiosa wirkt eher kleiner als die von Fury Road, obwohl, oder weil, wir mehr über sie wissen, sie detaillierter ausgearbeitet ist. Es war immer eine Stärke der Mad-Max-Filme, dass sie sich auf einen winzigen Teil der postapokalyptischen Welt konzentrierten, und auch diesen nur insoweit ausarbeiteten, als dass er für Max von Bedeutung war. Darüber arbeiteten sie in Andeutungen und Mutmaßungen, und das ließ uns glauben, dass da noch viel mehr war, die Welt viel größer als das, was wir von ihr zu sehen bekamen. Furiosas detaillierteres, expliziteres Worldbuilding gibt uns dagegen das Gefühl, die Welt des Films weitestgehend gesehen und verstanden zu haben — viel mehr als diese drei »Festungen« ist da nicht, hat man den Eindruck. Wie die allermeisten Prequels spricht Furiosa also aus, was nicht hätte ausgesprochen werden müssen, fügt seinem Vorgänger also nichts hinzu, sondern nimmt ihm etwas, Spielraum für Fantasie und Interpretation.

Eine andere Sache, und nochmal deutlich frustrierender, ist dass Miller auch innerhalb von Furiosa selbst ausbuchstabiert, was er früher angedeutet hätte, dass Furiosa, wenn man so will, auch gleich sein eigenes Prequel ist. Der Film beginnt in Furiosas Kindheit, und gut die erste Stunde des Films erzählt, wie Furiosa (Alyla Browne, später Anya Taylor-Joy) als Kind aus dem in Fury Road erwähnten, quasi-paradiesischen »Green Place« entführt wird, zuerst in die Fänge des sadistischen, etwas debilen Dementus (Chris Hemworth, der Bradley Coopers falsche Nase aus Maestro aufträgt) gerät, und später in Immortan Joes (Lachy Hulme übernimmt die Rolle vom 2020 verstorbenen Hugh Keays-Byrne) Citadel ankommt. Dieser Teil des Films, knapp die erste Hälfte, ist, Entschuldigung, sterbenslangweilig. Mir ist grundsätzlich egal, dass wir schon »wissen, wie es ausgeht«, das Problem ist ein anderes: Furiosa (die Figur) erhält über all diese Erzählzeit keine neuen Dimensionen, wir kennen sie am Ende nicht besser als vorher. Wir wussten, dass Furiosa eine toughe Überlebenskünstlerin ist, und diese lange Episode sagt uns: Das war sie schon immer. Wir wussten, dass Furiosa von Verlust, von der sprichwörtlichen »Vertreibung aus dem Paradies« gezeichnet ist, und dieser Prolog bestätigt das und breitet es episch aus, aber fügt emotional keine Facette hinzu. In der einen, kurzen Szene in der Mitte von Fury Road, in der Furiosa auf die Überlebenden der »Vuvalini« trifft und lernt, was aus dem »Green Place« geworden ist, hat Miller mehr über diese Figur und die Welt, aus der sie kommt, erzählt, uns ein facettenreicheres Bild davon gegeben, was sie antreibt, als in dieser ganzen ersten Stunde von Furiosa.

Das einzige an diesem Teil des Films, das sich nicht wie eine unnötige Ausbreitung von Material anfühlt, das Fury Road eleganter, ökonomischer und effektiver verarbeitet hat, ist die Einführung von Dementus, dem Villain des Films. Leider wirkt Dementus in dieser ersten Hälfte wie der uninteressanteste Villain der Reihe. Hemsworth spielt wie jemand, der zu viel mit Taika Waititi rumgehangen hat nunmal so spielt — alberne Grimassen, stupide Witzeleien —, sodass Dementus eher nervt als dass er Furcht einflößen oder faszinieren würde. Die Gruppe von Banditen, die er anführt, ist seltsam generisch verglichen mit denen, die wir aus den Vorgängern kennen: Von Immortan Joes Kult über Aunty Entitys Brot-und-Spiele-Gesellschaft bis zu Lord Humungus’ Fetischkriegern hatten die Gruppierungen, gegen die Max und seine Verbündeten antraten, stets eine eigene Identität, etwas, das sie vereinte, oder wenigstens die Andeutung davon. Dementus’ Gefolgschaft ist, von ein, zwei netten, aber alleinstehenden konzeptionellen oder visuellen Ideen (wie Dementus’ von drei Motorrädern gezogener Streitwagen) abgesehen, einfach »eine weitere Gang des Wastelands«. Was halt die Frage nur unterstreicht, warum wir soviel Zeit mit ihnen verbringen müssen.

Nachdem Furiosa dann bei Immortan Joe angelangt ist — Dementus nimmt Gastown ein und tauscht sie dann mit Joe gegen Ressourcen —, nachdem sie aus dem Bunker, in dem Joe seine Frauen gefangen hält, entkommen ist und sich, als Mann verkleidet, als Mechanikerin etabliert hat, schaltet der Film endlich in eine andere Gangart. Furiosa fährt auf dem War Rig von Praetorian Jack (Tom Burke) mit, quasi in der Rolle, die R2D2 in Luke Skywalkers X-Wing hatte. Von dem Moment an, in dem das War Rig endlich auf der Straße ist, ist Furiosa ein anderer, aufregenderer Film. Die erste große Actionsequenz, eine klassische Miller’sche Straßenschlacht, könnte ein Outtake aus Fury Road sein, und von da anzieht das Tempo an. Furiosa gewinnt Jacks Respekt und er hilft ihr, in die Position zu gelangen, die sie in Fury Road hatte, die es ihr ermöglichen soll, eines Tages zu ihrem Green Place zurückzukehren. Währenddessen arbeitet Dementus daran, die Kontrolle über die beiden übrigen Festungen des Wastelands zu erlangen. Das ganze gipfelt im Krieg zwischen ihm und Immortan Joe, und natürlich läuft es am Ende auf eine Konfrontation zwischen Furiosa und Dementus heraus.

Das ironische ist, dass diese zweite Hälfte des Films nicht nur actionreicher ist, sondern auch erzählerisch interessanter. Miller ist hier wieder in seinem Element, und kehrt zumindest ein Stück weit zurück zu der ökonomischen, beiläufigen Charakterentwicklung und Worldbuilding von Fury Road. Die Beziehung zwischen Furiosa und Jack etwa: ein Echo von der zwischen Max und Furiosa in Fury Road, aber auch eine Mentor-Beziehung, vielleicht, wenn man es so lesen will, auch eine romantische. Sie scheint gerade deshalb so facettenreich, weil Miller hier nicht erklärt, nicht benennt, weil er uns Raum für eigene Lesarten lässt. Selbst Dementus gewinnt in dieser zweiten Hälfte sowas ähnliches wie Tiefe, offenbart sowas wie eine Ideologie. Leider fühlt es sich nicht an wie der Payoff zur ersten Hälfte, im Gegenteil, es unterstreicht eher, was für eine Zeitverschwendung weite Teile dieser waren, wenn Miller hier in ein paar beiläufigen Dialogzeilen und Reaktionen soviel mehr erzählen kann.

Dennoch versöhnt die zweite Hälfte ein Stück weit mit dem Film. Niemand inszeniert Action dieser Größenordnung so virtuos wie Miller, und auch, wenn die CGI-Nachbesserungen hier eine ganze Ecke sichtbarer und gelegentlich störender sind als in Fury Road, basiert die Action nach wie vor auf spektakulärer Stuntarbeit, praktischen Effekten und on-location Setpieces, wie sie nur ein Meister wie er koordinieren kann. Miller findet einige prägnante Bilder, die mir wohl noch lange im Kopf bleiben werden, wie etwa, wenn er das endgültige Schicksal von Dementus zeigt. Und auch, wenn erzählerisch wenig neues erschlossen wird, ist die Zuneigung zu den Figuren für jeden, der Fury Road gesehen hat, groß genug, investiert zu sein.

Aber es bleibt, selbst in seinen besten Momenten, Fury Road light. Die Mad-Max-Reihe hatte ihre Höhen und Tiefen — keiner der Vorgänger ist meiner Meinung nach ansatzweise auf dem Level von Fury Road —, aber bisher hatte jeder der Filme seine eigene Identität. Vielleicht liegt das gerade daran, dass diese Reihe nie wirklich geplant war, dass jeder neue Film immer irgendwie passiert ist: Miller hatte eigentlich kein Sequel zum originalen Mad Max geplant, aber Unzufriedenheit mit dem Ergebnis und die Chance, es mit deutlich höherem Budget noch einmal zu versuchen, führten zu Mad Max 2/The Road Warrior. Beyond Thunderdome entstand aus einer von Mad Max unabhängigen Idee Millers über einen Stamm aus Kindern in einer postapokalyptischen Welt. Und bevor Miller dann mit der Arbeit am Drehbuch zu Fury Road anfing, vergingen fast 20 Jahre, in denen er sich anderen Projekten außerhalb des Mad-Max-Universums widmete.

Furiosa ist das erste »geplante« Mad-Max-Sequel, und so fühlt er sich auch an: kalkuliert, durchgeplant, spürbar Ergebnis desselben kreativen Prozesses wie der Vorgänger — im Gegensatz zu den bisherigen Filmen, die alle ihre eigene Inspiration hatten, alle aus einem separaten kreativen Impuls heraus entstanden sind. Es ist kein schlechter Film, aber es ist eben einer, dem es an eigener Identität fehlt. Obwohl in mehrerem Sinne des Wortes episch angelegt, wirkt Furiosa wie der »kleinste« Film der Mad-Max-Reihe. Er füllt Lücken, aber er regt kaum die Fantasie an, und er entlässt uns nicht mit einem Bedürfnis nach »mehr«.

May 24, 2024 film review kritik rezension george miller mad max furiosa fury road deutsch text

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Musikvertrieb jenseits der Plattformen: Cindy Lees Diamond Jubilee ist die Außenseiter-Erfolgsgeschichte des Jahres

2002 stellten Wilco ihr damals neues Album Yankee Hotel Foxtrot als Stream auf ihrer Website zur Verfügung. 2007 boten Radiohead ihr In Rainbows als »zahl was du willst«-Download an. Aufgenommen wurden diese Entscheidungen als so rebellische wie großzügige Gesten: Hier stellten Künstler die breite, unkomplizierte Verfügbarkeit ihrer Musik, das Erreichen möglichst vieler Menschen, über den kommerziellen Erfolg. Hier zeigten Bands Alternativen auf zu den konventionellen Vertriebswegen, deren Obsoleszenz sich schon damals ankündigte.

Jetzt, 2024, stellt Cindy Lee sein*ihr neues Album Diamond Jubilee als Stream auf YouTube und als »zahl was du willst«-Download auf einer eigenen Geocities-Website zur Verfügung — und es fühlt sich, für manche, wie eine andere Art von Rebellion an: Hier ist ein*e Künstler*in1, so sehen es offenbar einige, der*die sperrig sein will, der*die es potenziellen Hörer*innen bewusst schwer machen will, seine*ihre Musik zu hören. Zumindest kann man das aus Tweets und Reddit-Posts herauslesen, in denen User*innen etwa darüber witzeln, das Album im Dark Web aufgespürt zu haben, oder bekunden, dass es sie Stunden gekostet habe, zu verstehen, wie sie das Album auf ihren Laptop herunterladen können, oder sie kündigen gleich an, das Album gar nicht zu hören, weil es nicht auf den gängigen Streaming-Plattformen verfügbar ist.

Schon bemerkenswert, oder? Dass etwas, was einmal als radikal direkter, unkomplizierter Weg galt, Musik an die Leute zu bringen, heute für manche offenbar eine schwierig bis gar nicht zu nehmende Hürde darstellt. Ist das technologischer Fortschritt, oder vielleicht eher ein trauriger Verlust an Mündigkeit und Fantasie seitens der Konsument*innen? Haben wir uns so daran gewöhnt, dass Plattformen uns nahezu vollautomatisch mit allem Content versorgen, den wir uns wünschen, dass wir nichtmal mehr die Selbstständigkeit aufbringen können, eine Website zu besuchen und auf einen »Download«-Button zu klicken? Können wir uns eine Welt, in der Kunst uns auf andere Weise erreicht als dass irgendein Algorithmus sie uns ausspielt, gar nicht mehr vorstellen?

Aber bevor wir zu pessimistisch werden, lasst uns nicht die eigentliche Geschichte hier aus den Augen verlieren: die, dass Diamond Jubilee trotzdem irgendwie im Zeitgeist angekommen ist. Über Reddit- und Social-Media-Posts, Artikel in Blogs und nicht zuletzt ein Review bei Pitchfork, das Diamond Jubilee die höchste Wertung der Website seit Jahren gibt, hat sich rumgesprochen, wie gut das Album ist, dass es den (minimalen) Zusatzaufwand wert ist. Hörer*innen mögen sich beschweren und Witze reißen über den angeblich so schwierigen Zugang zum Album, aber die meisten scheinen sich davon dann doch nicht vom Hören des Albums abbringen zu lassen. Ausnahmen, wie erwähnt, gibt es — aber vielleicht ist das ein kleiner Preis für den Beweis, dass es Künstler*innen auch in Zeiten der Dominanz von Spotify und Co. noch möglich ist, andere Wege zu gehen, ohne deshalb vollständig auf die verdiente Aufmerksamkeit Anerkennung verzichten zu müssen. Reaktionen wie die beschriebenen lassen mich zwar mit dem Kopf schütteln darüber, dass wir überhaupt hier hingekommen sind: Ein*e Musiker*in bietet ihr Album an in dem Format »Dateien, die auf deinen eigenen Computer heruntergeladen werden, mit denen du machen kannst, was du willst, die du in einem Programm deiner Wahl abspielen und auf beliebig viele Geräte übertragen kannst«, und der*die durchschnittliche Musikkonsument*in sieht das offenbar als ein archaisches Konzept, bestenfalls als eine liebenswerte Schrulligkeit seitens des*der Künstler*in, schlimmstenfalls gar als eine Art Publicity Stunt2, anstatt als Musikvertrieb, wie er im digitalen Zeitalter sein sollte. Aber dass viele dann doch ihre erste, reflexhafte Abwehrhaltung überwinden, stimmt mich optimistisch, dass es vielleicht doch noch eine kleine Chance auf eine andere Zukunft gibt, in der digital vertriebene Kunst nicht auf Plattformen stattfinden muss, um stattzufinden.

Alles, was es offenbar braucht, ist ein Album, das so gut ist, wie Diamond Jubilee. Diamond Jubilee klingt wie das Greatest-Hits-Album eine*r Künstler*in oder Band, die es nicht gibt, eine, die lang genug existiert, dass man unterschiedliche Ären ihres Schaffens festmachen kann, anhand derer sich ein paar Dekaden Musikgeschichte erzählen lassen. Nur ist es eben nicht unsere Musikgeschichte, sondern die eines geisterhaften Paralleluniversums. »Hypnagogic pop« kann man sowas nennen, wenn man denn unbedingt muss. Ein Album, an das ich beim Hören von Diamond Jubilee denken muss, ist The Magnetic Fields’ Meisterwerk 69 Love Songs: nicht, weil Diamond Jubilee auch nur entfernt ähnlich klingen würde, sondern weil Diamond Jubilee, wie 69 Love Songs, auch Musik über Musik ist, weil sich auch hier ein*e Künstler*in musikalische Tradition zu eigen macht und neu erzählt.

OK, es braucht also eine ganze Menge: So schnell werden wir einen Moment wie diesen nicht wieder haben, wenn ein Album wie Diamond Jubilee trotz Verzicht auf die etablierten Vertriebs- und Promotionsstragien die Aufmerksamkeit eines guten Teils der musikbegeisterten Öffentlichkeit für sich gewinnen kann. Es hilft, dass sich anscheinend alle, die Diamond Jubilee hören, über die Brillanz des Albums einig sind, und natürlich, dass Flegel als Mitglied der Band Women und durch sein früheres Werk als Cindy Lee eine vielleicht nicht riesige, aber leidenschaftliche Fangemeinde hat. Vielleicht auch, dass viele von uns sich genau jetzt 3 nach einem Gegenentwurf zum Mainstream-Pop-Diskurs sehnten. Und natürlich ist auch einfach ein gutes Stück Glück dabei bei solchen word-of-mouth-Erfolgsgeschichten: Gut möglich, dass die meisten von uns vom nächsten Diamond Jubilee nichts mitkriegen — oder vom letzten nichts mitgekriegt haben.

Der Moment von Diamond Jubilee scheint, bedauerlicherweise, fast schon wieder vorbei. Während ich das hier schreibe ist meine Timeline dominiert von Hottakes zu Taylor Swifts neuem Album. Es ist nicht wirklich so, als hätte Swifts Release Diamond Jubilee aus dem Gespräch »verdrängt«, es sind zwei verschiedene Gruppen musikinteressierter Menschen, die über das eine und das andere reden. Aber es ist schon irgendwie poetisch, dass genau, als das Gespräch über diese*n Außenseiter-Musiker*in abflacht, das über die berühmteste Künstlerin der Welt (wieder) beginnt. Der Moment von Diamond Jubilee wird genau das bleiben, ein Moment, ein kurzes Aufblitzen einer anderen, besseren Zeit, aber keine permanente Rückkehr dorthin. Aber es fühlt sich gut an, an diese Zeit erinnert zu werden, als Künstler*innen noch auf organische Weise, über word-of-mouth von echtem Mensch zu echtem Mensch bekannt werden konnten, als es noch Einfluss hatte, was kluge Menschen so über Musik schreiben. Sie sind selten geworden, solche »Indie Rock Feel-Good Stories«, aber es ist gut zu wissen, dass sie doch noch nicht ganz unmöglich sind.


  1. »Cindy Lee« ist ein Projekt von Songwriter*in und Drag-Performer*in Patrick Flegel, der*die im Englischen das singuläre »they«-Pronomen nutzt. Das ist immer ein Bisschen sperrig zu übersetzen, ich versuche mal mit Sternchen und, wo möglich und verständlich, Eindeutschung von »they«-Konstruktionen in die hoffentlich grob richtige Richtung zu gehen.↩︎

  2. Diese Anschuldigung habe ich tatsächlich ein paar Mal auf Twitter oder Reddit gesehen. Ich finde sie einigermaßen albern und hoffe, dass ich nicht erklären muss, warum.↩︎

  3. Diamond Jubilee erschien genau zwischen den Hype-Zyklen für Beyoncés Cowboy Carter und Taylor Swifts Tortured Poets Department.↩︎

April 20, 2024 musik pop cindy lee indie pitchfork review kritik rezension deutsch text

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Netflix ist längst im Anti-Netflix-Business (eine Art Review von Squid Game: The Challenge)

(English version here)

So schamlos wie Netflix in seiner Adaption von Squid Game als Reality-/Gameshow hat, glaube ich, noch kein Unternehmen einen Torment Nexus präsentiert. Der Begriff, für diejenigen, die weniger chronically online sind, ist eine Referenz an diesen Tweet von Autor/Gamedesigner Alex Blechman:

Sci-Fi Author: In my book I invented the Torment Nexus as a cautionary tale

Tech Company: At long last, we have created the Torment Nexus from classic sci-fi novel Don’t Create The Torment Nexus

Der Tweet wird zitiert, wann immer irgendein Tech-CEO — nicht immer, aber oft genug Elon Musk — irgendeine neue Idee ankündigt, die verdächtig an Technologie in dystopischer Science-Fiction erinnert. Normalerweise ist da allerdings noch ein Bisschen Distanz zwischen Fiktion und Realität — die neusten Auswüchse des AI-Hype, oder Elon Musks Pläne, Menschen Chips ins Gehirn zu pflanzen, oder als »Smart-Home-Assistenten« oder Türkameras getarnte Überwachungstechnologie, oder was auch immer sonst, erinnern an dystopische Sci-Fi-Technologie, sind vielleicht von ihr inspiriert, aber sie sind nicht exakt dieser nachempfunden.

Squid Game: The Challenge aber ist noch einen Schritt weiter: Netflix hat hier explizit und mit Ansage versucht, die dystopisch-allegorische Gameshow aus Squid Game 1:1 in die Realität zu übertragen. Oder, naja, so nah an »1:1« wie das eben geht: Natürlich werden Verlierer*innen in der Reality-Version nicht wirklich erschossen. Aber eine Tintenkapsel in ihren Shirts platzt und sie müssen einen dramatischen Tod spielen und bis zum Ende des jeweiligen Spiels »tot« liegen bleiben, es stirbt also zumindest ihre Würde.

Es ist wirklich bemerkenswert, wie wenig die Reality-Version von der fiktionalen Serie abweicht: Nicht nur versuchen das Set-Design und die Inszenierung so nah wie möglich Look & Feel des Originals zu kopieren, nicht nur sind fast alle1 Spiele aus der Serie übernommen, durch geschickte Konstruktion der Spiele und inszenatorische Tricks bis hin zur Zuschauertäuschung wird auch versucht, die interne Dramaturgie der Spiele möglichst nah an die der Serie anzugleichen. Wie in der fiktionalen Serie etwa werden auch die Kandidat*innen vor dem Spiel »Marbles« dazu gebracht, Paare zu bilden, nur um dann zu erfahren, dass sie gegen ihre*n Partner*in antreten müssen. Die Hook des Spiels ist also wie in der fiktionalen Serie die Überwindung der Kandidat*innen ihrer moralischen Skrupel, gegen Freund*innen oder, in einem Fall, die eigene Mutter anzutreten.

Dieses penible Imitieren der Fiktion macht die Gameshow aktiv langweiliger. Jede Gelegenheit zur Subversion wird ausgelassen, es gibt keine Überraschungen für Kenner*innen der Serie. Bisweilen hat das ganze den Vibe einer Laientheaterproduktion von Squid Game, und zumindest ich frage mich regelmäßig, warum ich mir das angucken soll, wenn doch die Variante mit »Profis« existiert. Die Gameshow bietet mir wenig an als Belohnung dafür, dass ich den nie anerkannten, aber schwer zu ignorierenden Beigeschmack verdränge, dass man hier eben eine als antikapitalistische Satire gedachte, allegorische Idee als echte Reality-Show adaptiert hat, in der echte Menschen um Summen von echtem Geld spielen, die ihr echtes Leben im echten Kapitalismus signifikant verbessern könnten. Man fragt sich nicht nur, warum genau man weiterschauen sollte, sondern auch, wie einige Zuschauer in den sozialen Medien zum Ausdruck brachten, ob Netflix den Sinn der eigenen Sendung verfehlt hat?

Eine Eigenschaft des »alternativlosen« Kapitalismus, den Mark Fisher in Capitalist Realism beschreibt, ist dass er selbst antikapitalistische Ideen vereinnahmt. »Far from undermining capitalist realism, this gestural anti-capitalism actually reinforces it«, schreibt Fisher in Bezug auf Filme wie Pixars Wall-E, der die Menschheit der Zukunft als fettleibige, gedankenlose Konsummaschinen zeigt:

It seems that the cinema audience is itself the object of this satire, which prompted some right wing observers to recoil in disgust, condemning Disney/Pixar for attacking its own audience. But this kind of irony feeds rather than challenges capitalist realism. A film like Wall-E exemplifies what Robert Pfaller has called interpassivity’: the film performs our anti-capitalism for us, allowing us to continue to consume with impunity. The role of capitalist ideology is not to make an explicit case for something in the way that propaganda does, but to conceal the fact that the operations of capital do not depend on any sort of subjectively assumed belief.

Diese Idee des Publikums, das selbst zum Ziel der Satire wird, greift Alexis Nedd in ihrer Rezension von Squid Game: The Challenge in Indiewire auf:

Whether or not this show is good” could not be further from the point (or further from its own concern). This is a grudging ovation for the ability of Squid Game: The Challenge” to exist as a reality competition show that hates each of its competitors and its audience in equal measure and doesn’t even try to hide that contempt…presumably, and this is just one interpretation of the vibe, because we’re naughty little piggies and they wanna make us squeal.

Aus dieser Perspektive sind die »Bugs« von Squid Game: The Challenge in Wahrheit Features: Der unangenehme Beigeschmack, den die Pervertierung antikapitalistischer Kunst mit sich bringt, das Gefühl, dass man uns hier etwas als minderwertige, langweilige Kopie ein zweites Mal verkauft — all das belastet das Publikum ja nur zusätzlich, macht die Kritik an uns nur schärfer.



Diese Lesart ist stimmig — und kommt Netflix gelegen. Selbst im nicht gerade für seine Menschlichkeit bekannten Reality-Genre sticht der Umgang von Squid Game: The Challenge mit seinen Kandidat*innen oft als besonders kaltherzig hervor: Wir erfahren, wie sehr der Geldgewinn das Leben von Kandidat*innen verändern würde, unmittelbar bevor sie ausscheiden; Kandidat*innen werden für die Dramaturgie der Lächerlichkeit preisgegeben, wie etwa eine Kandidatin im Spiel »Red Light, Green Light«, die es scheinbar nicht schafft, wenige Sekunden stillzuhalten und unter Tränen aufgibt (in Wahrheit dauerte — laut Schilderungen von Kandidat*innen auf TikTok — der Dreh des Spiels nicht, wie das Spiel in der fiktionalen Serie und auch hier vorgegeben, 5 Minuten, sondern mehrere Stunden, was das Aufgeben der Kandidatin verständlicher macht); und natürlich ist da die Inszenierung des Ausscheidens, mit der Tintenkapsel und dem »Sterben« und dem Zwang, für den Rest des jeweiligen Spiels (also, siehe oben, wahrscheinlich mehrere Stunden) reglos liegenzubleiben — Kandidat*innen dürfen sich also nicht wirklich aus dem Spiel zurückziehen, müssen im Grunde weiter für die Produktion arbeiten, selbst, wenn für sie nichts mehr zu holen ist.

Netflix erlaubt sich diese besondere Kaltherzigkeit nicht, wie es einige Nutzer*innen in den sozialen Medien charakterisieren, weil sie Squid Game missverstanden hätten, sondern gerade weil sie Squid Game verstanden haben. Wie Fisher ausführt:

So long as we believe (in our hearts) that capitalism is bad, we are free to continue to participate in capitalist exchange.[…] [W]e are able to fetishize money in our actions only because we have already taken an ironic distance towards money in our heads.

Das erklärt vielleicht, warum auch Zuschauende, die das Original kennen und verstanden haben, mit einigermaßen gutem Gewissen Squid Game: The Challenge schauen. Es illustriert aber auch, aus welcher Position heraus Netflix diese Show produziert hat: Aus der Gewissheit, unverwundbar zu sein. Gäbe es das originale Squid Game nicht, wäre Squid Game: The Challenge nur eine weitere Reality-Show, eine unnötig kaltherzige und ehrlich gesagt ziemlich langweilige. Der Kontext der Original-Serie allerdings lässt Lesarten wie die von Nedd zu, nach denen jeder mögliche kritische Angriffspunkt die Satire der Show nur verschärft. Und, ja, technisch gesehen macht er die Serie auch angreifbar, Torment Nexus und so, aber was hat Netflix zu befürchten, wenn es die schärfstmögliche Kritik ja, in Form der Original-Serie, längst selbst formuliert hat? Im schlimmsten Fall unterstreicht Squid Game: The Challenge nur erneut die Relevanz des originalen Squid Game, ist also mindestens gute PR für Netflix’ Content.

Netflix hat erkannt, dass die klügste Art, mit Kritik an ihnen, ihrem Geschäftsmodell und der kapitalistischen Logik dahinter umzugehen darin besteht, diese Kritik selbst in das Geschäftsmodell zu integrieren. Die Synergy von Squid Game und Squid Game: The Challenge ist nur das jüngste Beispiel dafür: In gleich zwei Episoden der jüngsten Staffel von Black Mirror spielt ein dystopisches Netflix-Stand-in namens »Streamberry« eine Rolle. Black-Mirror-Autor Charlie Brooker erklärte dazu:

They went away and came back quite quickly — weirdly quickly — and said, Yeah, okay.’ There wasn’t any resistance to it, that I could tell. Which is a bit disappointing, because it would be good to be able to say I just did it anyway, because I’m an anarchist!’ But no.

So »weird« ist es aber gar nicht, dass Netflix die Idee akzeptierte: Sie hatten einfach das Marketing-Potenzial erkannt. Sie veröffentlichten eine »echte« Streamberry-Website, ließen User*innen dort »Accounts« anlegen und nutzten die so gesammelten Fotos für Marketing.

Und mit Blockbuster produzierte Netflix eine herzerwärmende Workplace-Sitcom über den letzten Blockbuster-Video-Store, eine Kette, die von Netflix und ihrem Streaming-Modell verdrängt wurde. Es fällt mir, ehrlich gesagt, schwer zu glauben, dass irgendjemand Blockbuster für eine wirklich gute Serienidee gehalten hätte, die sich tatsächlich irgendjemand angucken sollte — es würde mich nicht wundern, wäre diese Serie ausschließlich für den PR-Gag produziert worden, gerade dafür, dass Medien die Ironie der Existenz dieser Serie betonen und so Aufmerksamkeit für Netflix generieren.2

Also nein: Die Entscheidungen, die zur Produktion von Squid Game: The Challenge und Blockbusters und zu Black Mirrors »Streamberry« geführt haben, sind nicht weird und sind nicht die Entscheidungen eines Unternehmens, das die Kritik an seinem Modell (und dem System, in dem dieses Modell existiert) nicht versteht. Sie sind die Entscheidungen eines Unternehmens, das solche Kritik so gut versteht, dass es sie reproduzieren, neu verpacken und uns verkaufen kann. Eines Unternehmens, das sein Modell, nicht unberechtigt, für weitgehend alternativlos hält und weiß, dass dieser Mangel an Alternativen letztlich auch nur eine Marktlücke ist.


  1. Eine Ausnahme ist das Finale, das nicht, wie in der Serie, das titelgebende »Squid Game« ist, sondern »Schere, Stein, Papier«. Das ist allerdings mehr als eine Art »Übersetzung« denn als Subversion zu begreifen: Während die fiktionale Serie in Südkorea produziert wurde, ist die Reality-Adaption eine britische Produktion, und hat internationale Kandidat*innen. »Schere, Stein, Papier« ist international bekannter, simpler und für das internationale Publikum lesbarer, aber der Effekt ist ein ähnlicher: Ein Schulhofspiel wird zum alles entscheidenden, über das weitere Leben der Kandidat*innen bestimmenden Duell.↩︎

  2. Netflix ist nicht allein: Die Apple-TV+-Serie Severance ist zwar keine Satire über Streaming, aber eine über Tech-Unternehmen und moderne Arbeit, und es ist kein Zufall, dass die Ästhetik der Büroräume des fiktiven Konzerns der Serie an die Designsprache von Apple-Stores und -produkten erinnert.↩︎

December 11, 2023 review essay tv netflix squid game reality gameshow deutsch text

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