Musikvertrieb jenseits der Plattformen: Cindy Lees Diamond Jubilee ist die Außenseiter-Erfolgsgeschichte des Jahres

2002 stellten Wilco ihr damals neues Album Yankee Hotel Foxtrot als Stream auf ihrer Website zur Verfügung. 2007 boten Radiohead ihr In Rainbows als »zahl was du willst«-Download an. Aufgenommen wurden diese Entscheidungen als so rebellische wie großzügige Gesten: Hier stellten Künstler die breite, unkomplizierte Verfügbarkeit ihrer Musik, das Erreichen möglichst vieler Menschen, über den kommerziellen Erfolg. Hier zeigten Bands Alternativen auf zu den konventionellen Vertriebswegen, deren Obsoleszenz sich schon damals ankündigte.

Jetzt, 2024, stellt Cindy Lee sein*ihr neues Album Diamond Jubilee als Stream auf YouTube und als »zahl was du willst«-Download auf einer eigenen Geocities-Website zur Verfügung — und es fühlt sich, für manche, wie eine andere Art von Rebellion an: Hier ist ein*e Künstler*in1, so sehen es offenbar einige, der*die sperrig sein will, der*die es potenziellen Hörer*innen bewusst schwer machen will, seine*ihre Musik zu hören. Zumindest kann man das aus Tweets und Reddit-Posts herauslesen, in denen User*innen etwa darüber witzeln, das Album im Dark Web aufgespürt zu haben, oder bekunden, dass es sie Stunden gekostet habe, zu verstehen, wie sie das Album auf ihren Laptop herunterladen können, oder sie kündigen gleich an, das Album gar nicht zu hören, weil es nicht auf den gängigen Streaming-Plattformen verfügbar ist.

Schon bemerkenswert, oder? Dass etwas, was einmal als radikal direkter, unkomplizierter Weg galt, Musik an die Leute zu bringen, heute für manche offenbar eine schwierig bis gar nicht zu nehmende Hürde darstellt. Ist das technologischer Fortschritt, oder vielleicht eher ein trauriger Verlust an Mündigkeit und Fantasie seitens der Konsument*innen? Haben wir uns so daran gewöhnt, dass Plattformen uns nahezu vollautomatisch mit allem Content versorgen, den wir uns wünschen, dass wir nichtmal mehr die Selbstständigkeit aufbringen können, eine Website zu besuchen und auf einen »Download«-Button zu klicken? Können wir uns eine Welt, in der Kunst uns auf andere Weise erreicht als dass irgendein Algorithmus sie uns ausspielt, gar nicht mehr vorstellen?

Aber bevor wir zu pessimistisch werden, lasst uns nicht die eigentliche Geschichte hier aus den Augen verlieren: die, dass Diamond Jubilee trotzdem irgendwie im Zeitgeist angekommen ist. Über Reddit- und Social-Media-Posts, Artikel in Blogs und nicht zuletzt ein Review bei Pitchfork, das Diamond Jubilee die höchste Wertung der Website seit Jahren gibt, hat sich rumgesprochen, wie gut das Album ist, dass es den (minimalen) Zusatzaufwand wert ist. Hörer*innen mögen sich beschweren und Witze reißen über den angeblich so schwierigen Zugang zum Album, aber die meisten scheinen sich davon dann doch nicht vom Hören des Albums abbringen zu lassen. Ausnahmen, wie erwähnt, gibt es — aber vielleicht ist das ein kleiner Preis für den Beweis, dass es Künstler*innen auch in Zeiten der Dominanz von Spotify und Co. noch möglich ist, andere Wege zu gehen, ohne deshalb vollständig auf die verdiente Aufmerksamkeit Anerkennung verzichten zu müssen. Reaktionen wie die beschriebenen lassen mich zwar mit dem Kopf schütteln darüber, dass wir überhaupt hier hingekommen sind: Ein*e Musiker*in bietet ihr Album an in dem Format »Dateien, die auf deinen eigenen Computer heruntergeladen werden, mit denen du machen kannst, was du willst, die du in einem Programm deiner Wahl abspielen und auf beliebig viele Geräte übertragen kannst«, und der*die durchschnittliche Musikkonsument*in sieht das offenbar als ein archaisches Konzept, bestenfalls als eine liebenswerte Schrulligkeit seitens des*der Künstler*in, schlimmstenfalls gar als eine Art Publicity Stunt2, anstatt als Musikvertrieb, wie er im digitalen Zeitalter sein sollte. Aber dass viele dann doch ihre erste, reflexhafte Abwehrhaltung überwinden, stimmt mich optimistisch, dass es vielleicht doch noch eine kleine Chance auf eine andere Zukunft gibt, in der digital vertriebene Kunst nicht auf Plattformen stattfinden muss, um stattzufinden.

Alles, was es offenbar braucht, ist ein Album, das so gut ist, wie Diamond Jubilee. Diamond Jubilee klingt wie das Greatest-Hits-Album eine*r Künstler*in oder Band, die es nicht gibt, eine, die lang genug existiert, dass man unterschiedliche Ären ihres Schaffens festmachen kann, anhand derer sich ein paar Dekaden Musikgeschichte erzählen lassen. Nur ist es eben nicht unsere Musikgeschichte, sondern die eines geisterhaften Paralleluniversums. »Hypnagogic pop« kann man sowas nennen, wenn man denn unbedingt muss. Ein Album, an das ich beim Hören von Diamond Jubilee denken muss, ist The Magnetic Fields’ Meisterwerk 69 Love Songs: nicht, weil Diamond Jubilee auch nur entfernt ähnlich klingen würde, sondern weil Diamond Jubilee, wie 69 Love Songs, auch Musik über Musik ist, weil sich auch hier ein*e Künstler*in musikalische Tradition zu eigen macht und neu erzählt.

OK, es braucht also eine ganze Menge: So schnell werden wir einen Moment wie diesen nicht wieder haben, wenn ein Album wie Diamond Jubilee trotz Verzicht auf die etablierten Vertriebs- und Promotionsstragien die Aufmerksamkeit eines guten Teils der musikbegeisterten Öffentlichkeit für sich gewinnen kann. Es hilft, dass sich anscheinend alle, die Diamond Jubilee hören, über die Brillanz des Albums einig sind, und natürlich, dass Flegel als Mitglied der Band Women und durch sein früheres Werk als Cindy Lee eine vielleicht nicht riesige, aber leidenschaftliche Fangemeinde hat. Vielleicht auch, dass viele von uns sich genau jetzt 3 nach einem Gegenentwurf zum Mainstream-Pop-Diskurs sehnten. Und natürlich ist auch einfach ein gutes Stück Glück dabei bei solchen word-of-mouth-Erfolgsgeschichten: Gut möglich, dass die meisten von uns vom nächsten Diamond Jubilee nichts mitkriegen — oder vom letzten nichts mitgekriegt haben.

Der Moment von Diamond Jubilee scheint, bedauerlicherweise, fast schon wieder vorbei. Während ich das hier schreibe ist meine Timeline dominiert von Hottakes zu Taylor Swifts neuem Album. Es ist nicht wirklich so, als hätte Swifts Release Diamond Jubilee aus dem Gespräch »verdrängt«, es sind zwei verschiedene Gruppen musikinteressierter Menschen, die über das eine und das andere reden. Aber es ist schon irgendwie poetisch, dass genau, als das Gespräch über diese*n Außenseiter-Musiker*in abflacht, das über die berühmteste Künstlerin der Welt (wieder) beginnt. Der Moment von Diamond Jubilee wird genau das bleiben, ein Moment, ein kurzes Aufblitzen einer anderen, besseren Zeit, aber keine permanente Rückkehr dorthin. Aber es fühlt sich gut an, an diese Zeit erinnert zu werden, als Künstler*innen noch auf organische Weise, über word-of-mouth von echtem Mensch zu echtem Mensch bekannt werden konnten, als es noch Einfluss hatte, was kluge Menschen so über Musik schreiben. Sie sind selten geworden, solche »Indie Rock Feel-Good Stories«, aber es ist gut zu wissen, dass sie doch noch nicht ganz unmöglich sind.


  1. »Cindy Lee« ist ein Projekt von Songwriter*in und Drag-Performer*in Patrick Flegel, der*die im Englischen das singuläre »they«-Pronomen nutzt. Das ist immer ein Bisschen sperrig zu übersetzen, ich versuche mal mit Sternchen und, wo möglich und verständlich, Eindeutschung von »they«-Konstruktionen in die hoffentlich grob richtige Richtung zu gehen.↩︎

  2. Diese Anschuldigung habe ich tatsächlich ein paar Mal auf Twitter oder Reddit gesehen. Ich finde sie einigermaßen albern und hoffe, dass ich nicht erklären muss, warum.↩︎

  3. Diamond Jubilee erschien genau zwischen den Hype-Zyklen für Beyoncés Cowboy Carter und Taylor Swifts Tortured Poets Department.↩︎



Date
April 20, 2024