Sayaka Muratas »Zeremonie des Lebens« aus autistischer Perspektive

In der Titelgeschichte von Sayaka Muratas Kurzgeschichtenband »Zeremonie des Lebens«1 erinnert sich die Erzählerin Maho an eine Episode aus ihrer Kindheit. Im Schulbus »ging es um Dinge, mit denen wir uns gegenseitig füttern wollten«. Von »Wolken« über »Zuckerwatte« landen die Kinder schließlich bei Tieren und überbieten einander mit immer größeren und/oder exotischeren Tieren: ein Elefant, eine Giraffe, schließlich ein Affe. Das inspiriert die Hauptfigur zu ihrem eigenen Beitrag:

Als ich an der Reihe war, rief ich, ohne viel zu überlegen, »Mensch!«, womit ich witzig an den »Affen« anknüpfen wollte. Doch mein Vorschlag löste einen regelrechten Tumult im Bus aus.

»Krank« finden die anderen Kinder ihren Beitrag. Ihre beste Freundin bricht in Tränen aus. Ihre Lehrerin weist sie zurecht und droht: »Das wird ein Nachspiel haben«.

Maho versteht nicht, was sie falsch gemacht, »wieso Affe okay war, Mensch aber nicht«.

Wahrscheinlich hat jeder autistische Mensch eine Erfahrung dieser Art gemacht: Man erkennt irgendein Muster in der ansonsten oft undurchsichtigen Kommunikation der neurotypischen Menschen um einen herum, und tut sein bestes, diesem Muster zu folgen, geht dabei aber einen Schritt zu weit, überschreitet eine Grenze, die nie explizit gemacht wurde, aber über die sich irgendwie alle einig sind.

Murata beschreibt die Atmosphäre im Bus mit dramatischen Worten:

Der ganze Bus fiel mit derartiger Empörung über mich her, dass ich kein Wort herausbrachte und nur zu Boden stieren konnte.

Gemessen daran, wie solche Szenen in der Realität ablaufen, aus einer hypothetischen »objektiven« Perspektive betrachtet, ist das sicher eine überzeichnete Beschreibung. Das Gefühl, was ein solches Erlebnis auslösen kann, trifft Murata aber ziemlich gut.

In der englischen Übersetzung von Ginny Tapley Takemori gefällt mir die Beschreibung noch ein Bisschen besser:

All the humans on the bus, filled with righteousness, were reviling me.2

»All the humans on the bus«, als würde Maho selbst nicht dazu gehören. Als neurodivergenter Mensch in neurotypisch dominierter Umgebung zu interagieren, kann sich anfühlen wie eine ständige Prüfung der eigenen Menschlichkeit.

Aus dem Moment, in dem man an dieser Prüfung scheitert, »einen Schritt zu weit« geht, macht Murata eine Ästhetik, eine Weltanschauung. Sie entwirft ganze Welten basierend auf solchen unfreiwilligen Grenzüberschreitungen und unaussprechbaren Gedanken, und zeigt dabei auf, wie beliebig die Grenzen zwischen akzeptabel und inakzeptabel, sagbar und unsagbar eigentlich sind. Viele ihrer Protagonist*innen sind autistisch oder anderweitig neurodivergent gecodet3 und viele ihrer Geschichten — ob so intendiert oder nicht — lesen sich wie Verarbeitungen konkreter Elemente autistischer Wahrnehmung und Lebenserfahrung. Ich will mir hier nicht anmaßen, irgendjemanden zu diagnostizieren, und andere Perspektiven und Lesarten, etwa queere, feministische und kapitalismuskritische, sind ebenso valide; aber ich glaube, Analyse aus neurodivergenter Perspektive kann ein wichtiger Baustein sein, Muratas Arbeit zu verstehen.

»Zeremonie des Lebens« (die Kurzgeschichte) spielt in einer Welt, in der die Hinterbliebenen bei Trauerfeiern den Körper des Verstorbenen verspeisen und danach Sex miteinander haben in der Hoffnung, so neues Leben zu zeugen, die titelgebende Zeremonie. Maho scheint sich als einzige zu erinnern, dass das nicht immer die Normalität war, dass Menschenfleisch zu essen einst ein Tabu war — ironischerweise eben, weil sie damals einmal dafür bestraft wurde, als einzige das Tabu gebrochen zu haben. Wer sowieso intuitiv meist innerhalb der gerade akzeptieren Normen interagiert, dem fallen sie vielleicht gar nicht auf — erst, wer wie Maho dagegen verstößt, spürt, wie sehr sie unsere Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten begrenzen.

»Ein herrliches Material« funktioniert nach ähnlichem Schema wie »Zeremonie des Lebens«: Eine nach geltenden Normen und Maßstäben grotesk anmutende Praxis ist in der Handlung der Geschichte Normalität. Diesmal ist es die Weiterverarbeitung der Körper Verstorbener als Material für Möbel, Schmuck und Kleidung. Lediglich Naoki, der Verlobte von Erzählerin Nana, findet die Praxis »grausam« und verbietet ihr, Kleidung aus Menschenhaar zu tragen, was ihre Freundinnen wiederum befremdlich finden. Diese Umkehrung von »normal« und »abnormal« ist ein, zugegeben, wenig subtiler Kniff, und Murata hat einen Hang dazu, ihre Figuren in Thesen sprechen zu lassen. So wundert sich Nana:

Ich kann nicht begreifen, was er mit dem Wort »grausam« meint. Naoki sagt, es sei grausam, Menschen als Material zu verwenden, aber ich finde es viel grausamer, stattdessen sämtliche Toten zu verbrennen. Wir verwenden dasselbe Wort, um die Werte des anderen herabzusetzen.

Und viel deutlicher könnte Murata eine ihrer zentralen Ideen — die, dass Normen, Traditionen und Werte menschengemacht und veränderlich sind — nicht ausbuchstabieren. Aber Murata kann sich solche plakativen Passagen erlauben, weil sie an anderer Stelle mehr zeigt als erzählt, weil sie uns nicht nur erklärt, sondern auch fühlen lässt, wie solch radikal andere Werte als unsere entstehen und aufrechterhalten werden könnten. Stellenweise wird die Praxis, menschliche Überreste weiterzuverwerten, mit kühler Logik erklärt (vielleicht die Sorte berechnender, emotionsloser Logik, die autistischen Menschen oft unterstellt wird?) — wäre es nicht Verschwendung, die Verstorbenen einfach wegzuwerfen? Doch im Laufe der Geschichte erhält die Praxis auch eine überraschende emotionale Dimension: Am Ende präsentiert die zukünftige Schwiegermutter Nana einen Hochzeitsschleier, der aus der Haut von Naokis verstorbenem Vater genäht wurde, und Naoki, entgegen seiner Überzeugung, ist überwältigt von seiner Schönheit. Es ist ein verstörender, grotesker Moment — aber, irgendwie, spätestens, wenn Naoki eine Narbe seines Vaters im Schleier wiedererkennt, auch ein berührender. Die Geschichte endet auf einer Note von angemessener Ambiguität: Naoki weiß selbst nicht mehr so richtig, wie er über die Praxis denken soll, Nana scheint einzusehen, dass sie nie ganz verstehen wird, wie ihr Verlobter denkt und fühlt. Dennoch endet Murata auf einer versöhnlichen Note:

Es war Naoki, noch kein Gebrauchsgegenstand, der meine Hand hielt. Wir teilten unsere Körperwärme für die kurze Zeit, in der wir nicht nur Material, sondern Lebewesen sein durften. Dieses Gefühl, am Leben zu sein, war ein kostbarer Moment der Illusion, und ich drückte Naokis schlanke Finger noch fester.

Es ist ein zärtliches, etwas kitschiges Ende, und angesichts des vorangegangenen hat es auch eine gewisse Absurdität, etwas Verstörendes auch, und irgendwie ist das genau der richtige Ton für das Ende einer Geschichte, die letztlich illustriert, wie schwierig es ist, aber auch wie wertvoll es sein kann, sich mit Menschen zu arrangieren, die die Welt anders wahrnehmen als man selbst.

Das Ende von »Ausgebrütet« ist ein verzerrtes Spiegelbild hiervon. Die Geschichte erzählt von Haruka, die laut eigener Aussage »keine Persönlichkeit« hat. Je nachdem, in welchem Umfeld sie bewegt, nimmt sie unterschiedliche Charakterzüge an — etwas das, wie die Geschichte anerkennt, wir alle zu einem gewissen Grad tun, hier aber ins Extrem getrieben wird: Haruki wird buchstäblich zu einem anderen Menschen, je nachdem, in welchem Umfeld und in wessen Gesellschaft sie ist. Die meisten Menschen in ihrem Leben kennen nur jeweils eine ihrer Persönlichkeiten: Die alten Schulfreund*innen kennen sie als Musterschülerin und nennen sie »die Vorsitzende«, die Kommiliton*innen an der Uni als die einfältige »Dummi«, und die Freund*innen aus dem Filmclub als die schöne, zerbrechliche »Prinzessin«. Ihr Verlobter Masashi hat sie als »Dummi« kennengelernt, doch Haruka befürchtet, dass er auf der Hochzeit, wo alle Freund*innen zusammenkommen, die Wahrheit erfahren wird.

Auch diese Geschichte endet damit, dass die Hauptfiguren sich erneut zu einem Leben miteinander bekennen, und mit dem Bewusstsein — seitens der*des Leser*in und der Erzählerin —, dass die beiden einander wohl nie ganz verstehen werden. Aber diesmal ist da ein Element von Selbsttäuschung seitens Masashis: Haruka offenbart ihm am Ende der Geschichte die Wahrheit über ihre verschiedenen Persönlichkeiten, und bietet ihm an, zu entscheiden, auf welche Persönlichkeit sie sich permanent festlegen soll. Doch Masashi akzeptiert die Wahrheit nicht — er glaubt noch immer, dass es eine »echte« Haruka gibt, die sie ihm vorenthält, und dass die Offenbarung der fünf verschiedenen Persönlichkeiten so nur eine neue Art der Täuschung ist. Erst, als Haruka ihm eine solche »echte« Persönlichkeit anbietet, gibt er sich zufrieden.

Doch die »echte« Haruka ist in Wahrheit genau das Gegenteil: eine bewusst von Aki konstruierte Persönlichkeit, die Haruka im Falle eines solchen Konflikts annehmen sollte. Masashi ist eher bereit, diese falsche Persönlichkeit — und die simple Küchenpsychologie dahinter — zu akzeptieren als Haruka in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu sehen.

»Ausgebrütet« funktioniert einfach als universelle Geschichte über die Schwierigkeit, mit anderen Menschen zusammenzuleben und dabei seine Individualität zu behalten. Sie lässt sich aber auch als eine Art Horrorstory über autistisches Masking lesen. Unter diesem Aspekt haben einige Momente der Geschichte zusätzliche Resonanz: Wenn Haruka erst in ihren frühen 20ern bemerkt, dass sie »keine Persönlichkeit« habe, erinnert das an die Krise, die es auslösen kann, wenn man als vor allem spät diagnostizierter autistischer Mensch zum ersten Mal versucht aufzudröseln, wo die über Jahre antrainierte »maskierte« Persönlichkeit aufhört und das »wahre Ich« anfängt.

Und als Aki Haruka ihre neue, konstruierte »Notfallpersönlichkeit« präsentiert, erklärt sie, bewusst eine »unangenehme« Persönlichkeit kreiert zu haben. Denn:

Das Hässliche ist immer eindrücklicher als das Schöne. Die Leute machen viel Aufheben davon und schwärmen, wie »ehrlich und authentisch« es sei. Und sie machen sich eigene Vorstellungen, erfinden eine klischeehafte Geschichte, fühlen sich bestätigt und dementsprechend so richtig wohl.

Auch das — und Masashis Bereitschaft, diese Persönlichkeit mitsamt ihren angeblichen niederen Intentionen, zu akzeptieren — erinnert an eine Erfahrung, die viele autistische Menschen machen müssen: Dass neurotypische Kommunikation mehr »zwischen den Zeilen« stattfindet als autistische, kann für autistische Menschen nicht nur deshalb herausfordernd sein, weil das Lesen »zwischen den Zeilen« weniger in unserer Natur liegt, und wir deshalb nicht immer verstehen, was sie uns, neben der offensichtlichen, buchstäblichen Bedeutung ihrer Worte, eigentlich noch sagen wollen; sondern auch, weil neurotypische Menschen — wohl weil sie es so gewohnt sind, dass ein Großteil der Bedeutung im Subtext und nicht in den Worten selbst steckt — manchmal eine Bedeutung, eine Agenda gar hinter den Worten autistischer Menschen auszumachen meinen, die wir gar nicht intendiert haben. Dass gleichzeitig Haruka selbst nicht erkennt, dass hinter Akis Konstruktion ihrer neuen Persönlichkeit — Aki dichtet der »wahren« Haruka unter anderem Neid auf sie, Aki, an — auch ein gewisses Eigeninteresse steckt, gibt dem ganzen noch eine gewisse bittere Ironie.

In weiteren Geschichten in »Zeremonie des Lebens« behandelt Murata unter anderem Essensaversionen und hyperspezifische Diäten (»Mein wunderbarer Esstisch«, »Die essbare Stadt«) und die Entfremdung vom eigenen Körper (»Puzzle«); sie erzählt von Menschen, die sich nicht als solche identifizieren (»Fiffi«), und von Figuren, die eigentlich für Menschen vorbehaltene Emotionen Objekten gegenüber fühlen (»Liebende im Wind«); nicht zuletzt tauchen immer wieder alternative Beziehungsmodelle auf. All das sind Themen, die universell sind, aber im Leben vieler autistischer Menschen besonders zentrale Rollen einnehmen, oder denen die Betrachtung aus autistischer Perspektive eine zusätzliche Dimension gibt. Tonal bespielt Murata dabei die ganze Bandbreite zwischen dem eher geerdeten, unscheinbaren »Die Ladenhüterin« und dem brachialeren, jedes denkbare Tabu brechenden Nachfolger »Das Seidenraupenzimmer«. »Zeremonie des Lebens« ist mal zärtlich, mal komisch, verstörend, und funktioniert gerade deshalb als Fortsetzung zu dem, was Murata in »Die Ladenhüterin« begonnen hatte, fügt es ihrem Porträt autistischen Lebens doch weitere Facetten und Tonarten hinzu.


Danke fürs Lesen! Vielleicht gefällt dir ja auch mein Text über Kazuo Ishiguros Klara & die Sonne autistischer Perspektive bei 54 Books.

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  1. Die deutsche Übersetzung von Ursula Gräfe ist im Aufbau Verlag erschienen. Der Verlag hat mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.↩︎

  2. Ich kann nicht beurteilen, welche Übersetzung akkurater ist.↩︎

  3. Schon »Die Latenhüterin«, Muratas Durchbruch im Westen, war eines der glaubhaftesten, empathischsten literarischen Porträts einer autistischen Figur, die ich kenne.↩︎



Date
November 15, 2022