Ruthanna Emrys’ A Half-Built Garden: Wie man sich das Ende des Kapitalismus vorstellen kann

Laut einem wahlweise Fredric Jameson oder Slavoj Žižek zugeschriebenen, später von Mark Fisher zu seiner Theorie von »Capitalist Realism« weiterentwickelten, und generell einigermaßen zu Tode zitierten Gedanken ist es leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Ein Blick auf die Science-Fiction-Trends, die in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrtausends das Genre geprägt haben, scheint Jameson/Žižek/Fisher recht zu geben: An Geschichten vom Ende der Welt, Dystopien, mangelte es wahrlich nicht, von The Hunger Games über The Road und Fury Road zu Station Eleven. Geschichten von einer anderen, vielleicht besseren Welt, Utopien, jedoch, waren eine ganze Weile lang selten. Und selbst die wenigen optimistischeren Zukunftsvisionen bedienten sich oft Narrativen, die auch in die neoliberale Erzählung passten: Brad Birds Tomorrowland etwa war erfrischend als Kritik am Sci-Fi-Genre, an genau diesem Versagen, neue Utopien zu liefern; seine eigene Vision einer besseren Welt fokussierte sich allerdings auf eine Art »geistige Elite«, die dem Rest von uns den Weg weisen soll, war also letztlich gut mit der neoliberalen Erzählung vereinbar, die unsere Gegenwart bestimmt. Eine Welt ohne Kapitalismus wagten sich lange also nichtmal diejenigen vorzustellen, deren Job es ist, sich andere Wirklichkeiten auszumalen als die, in der wir leben.

Mittlerweile scheint sich jedoch eine Gegenströmung zu bilden: Star Trek ist zurück im Fernsehen und zu alter Form; Serien wie For All Mankind und The Orville stehen in der Tradition dieses wichtigsten aller utopischen, post-kapitalistischen Sci-Fi-Franchises. Und auch in der Literatur nehmen Autor*innen Jamesons/Žižeks/Fishers Beobachtung immer häufiger als explizite Herausforderung. Die Motivation ist dabei interessanterweise dieselbe, die hinter vielen der dystopischen Geschichten der vergangenen paar Dekaden steckt: die Konfrontation der drohenden Klimakatastrophe.1 Warnen vor dem Schlimmsten ist eine Aufgabe der Science-Fiction, aber eine andere, ebenso wichtige ist das Erschließen von Alternativen. Und wer sich eine Alternative zur Klimakatastrophe vorstellen will, so scheinen immer mehr Autor*innen einzusehen, der muss sich das Ende des Kapitalismus vorstellen.

Am prominentesten und explizitesten ist wohl Kim Stanley Robinsons 2020er Roman The Ministry for the Future. Explizit, weil Robinson, der bei Jameson studiert hat, diesem sein Buch widmet, und den Satz vom »Ende des Kapitalismus« im Text selbst zitiert. Es geht um das titelgebende, fiktive Ministerium, eine internationale Behörde, geschaffen als Reaktion auf eine katastrophale Hitzewelle in Indien, die zur Aufgabe hat, für die Rechte der noch ungeborenen Menschen einzustehen, die in der Zukunft unser Versagen im Kampf gegen die Klimakatastrophe würden ausbaden müssen. Robinson erzählt, zwischen essayistischen Passagen, die Geschichte der Idealist*innen im Dienste des Ministeriums, die sich aufreiben im zunächst aussichtslos scheinenden Versuch, das System zu ändern — und dann, langsam, erste Teilerfolge erreichen. Die Dringlichkeit für Veränderung macht Robinson mit einem Handlungsstrang über eskalierenden Klima-Terrorismus deutlich. Die Botschaft scheint: Kommen wird der Systemwandel so oder so — wenn nicht auf den »offiziellen« Wegen, für die das fiktive Ministerium steht, dann auf inoffiziellen, schmerzhafteren.

Überwunden wird der Kapitalismus in Robinsons Buch jedoch nicht, eine andere Welt wird höchstens angedeutet. So, wie das Ministerium, notgedrungen, auf Inkrementalismus setzt, will Robinson seine Leser*innen zunächst für die bloße Möglichkeit von Veränderung öffnen, uns langsam daran wieder daran gewöhnen, unsere Vorstellungskraft für etwas anderes als Worst-Case-Szenarien zu verwenden. Robinson scheint bedacht, dem in der Reaktion auf jede auch nur vorsichtig hoffnungsvolle Vision von Veränderung aufkommenden Vorwurf der »Träumerei« vorzugreifen: Dem kapitalistischen Realismus setzt er seinen eigenen, akribisch recherchierten Realismus entgegen, der Weg zur Veränderung, den Robinson aufzeigt, ist nicht spektakulär und mittelmäßig inspirierend, aber plausibel. Es ist Systemkritik, die bewusst niemanden schockieren will, und das hat seinen Wert: The Ministry for the Future ist ein Roman, den Barack Obama zu seinen Lieblingsbüchern des Jahres zählen konnte, der ein Mainstream-Publikum anspricht, und der dennoch, so vorsichtig formuliert und bekömmlich verpackt das ist, die Endgültigkeit des Kapitalismus hinterfragt. Radikalisieren wird dieses Buch niemanden, aber vielleicht sät es erste Samen im ein oder anderen Kopf, die später zu größerem aufblühen könnten.

Dennoch: Es wäre nachvollziehbar, würde Robinsons Roman den*die ein oder andere*n unbefriedigt zurücklassen. Wer nach radikaleren Zukunftsvisionen sucht, könnte in Ruthanna Emrys A Half-Built Garden fündig werden.

Emrys lässt ihre Erzählerin an einer Stelle das »divine right of kings« evozieren, und spielt damit auf ein Zitat von Ursula K. Le Guin an, das ähnlich oft zitiert wird wie das von Jameson (oder wem auch immer):

We live in capitalism. Its power seems inescapable. So did the divine right of kings. Any human power can be resisted and changed by human beings.

Es ist ein ähnlicher Gedanke, nur eben mit dem Zusatz, dass die scheinbare Unmöglichkeit, sich andere Wirklichkeiten vorzustellen, ein Trugschluss ist. Es gibt einen Hinweis auf die Fragen, die Emrys sich mit ihrem Buch gestellt hat. Im »Whatever«-Blog formuliert sie diese noch konkreter aus:

[H]ow do you imagine something better than the circumstances that shape everything around you? What looks as different from modern global capitalism as capitalism looks from god-touched emperors? And what parts of modernity will stick around and cause trouble even after they’re supposedly relegated to the past?

Der Verweis auf Le Guin deutet auch an, in welcher literarischen Tradition Emrys sich sieht: der einer Science-Fiction, die von den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften so sehr inspiriert ist wie von den Naturwissenschaften, die fragt, wie die Technologie, mit der wir interagieren, aber auch die Systeme und Ideologien, mit und in denen wir leben, unser Bewusstsein und unsere Beziehungen zueinander verändern.

Strukturell ist A Half-Built Garden ein klassischer first contact-Roman: Er erzählt vom ersten Zusammentreffen der Menschheit mit intelligentem außerirdischen Leben. Diese Menschheit ist uns allerdings fast so fremd wie die Außerirdischen, auf die sie trifft, und so geht es in Emrys Roman wirklich um das Aufeinandertreffen (mindestens) zweier Ideologien, zweier Visionen für unsere Zukunft.

Die Handlung setzt 2083, nach einer weltweiten Revolution, die die Menschheit auf den Weg gebracht hat, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die alten Nationalstaaten existieren offiziell noch, haben allerdings an realer Macht verloren. Stattdessen dominieren die watersheds, lokale Kommunen, organisiert um die Ufer der großen Flüsse der Welt. Die watersheds haben keine festen Hierarchien, sie treffen ihre Entscheidungen mittels dandelion networks, im Grunde eine Art Message Boards. Um sicherzustellen, dass die getroffenen Entscheidungen auf den gemeinsamen Werten basieren, haben die Gründer*innen der dandelion networks genau die Technologien implementiert, die heute unsere Kommunikation im Netz oft so unangenehm machen: Algorithmen ordnen und gewichten die Nachrichten und Stimmen der User*innen, basierend auf diesen Grundwerten sowie den Kompetenzen, die User*innen in der Vergangenheit bewiesen haben; gesammelte Daten über die Ökosysteme, die die watersheds schützen wollen, fließen in das System ein, und durch maschinelles Lernen stetig ausgefeilter werdende Programme »sprechen« für die Flüsse, Wälder und Organismen, posten buchstäblich in den Message Boards und machen die Daten so zu einem lebendigen Teil der Debatte. Viele Mitglieder der watersheds, darunter Protagonistin und Erzählerin Judy Wallach-Stevens, interagieren via Körper-Augmentationen mit den dandelion networks, sodass sie den Zustand ihrer Umwelt buchstäblich fühlen können.

Judy lebt im Chesapeake watershed, das sich um den Potomac River organisiert hat. Mit ihrer Frau Carol und dem gemeinsamen Baby macht sie den ersten Kontakt mit den Außerirdischen, die in der Nähe ihres watersheds landen.

Gleich zwei intelligente, außerirdische Spezies landen auf der Erde: Die plains people und tree people leben in »Symbiose« miteinander, in künstlichen Habitaten im Weltraum, die in Ringen um die Sonne ihres Sonnensystems organisiert sind. Die »Ringers«, wie sie sich selbst und die Bewohner*innen der Erde sie bald identifizieren, sind gekommen in einer Mission: Sie wollen die Menschheit warnen, und ihr ein Angebot machen. Die Ringers glauben, dass jede technologische Spezies irgendwann ihrem Heimatplaneten »entwächst«. Die einzige Möglichkeit für eine solche Spezies, sich nicht selbst zu zerstören, ist ihre »birth world« zu verlassen, und eine neue, künstliche Heimat im All zu schaffen. Die Menschheit ist die vierte Spezies, die die Ringers so zu warnen versucht haben, doch in allen anderen Fällen erreichten sie ihr Ziel zu spät. Jetzt, wo sie endlich eine Spezies vor deren Aussterben erreicht haben, sind sie versessen darauf, die Menschheit zu überzeugen, die Erde zu verlassen, um gemeinsam mit ihnen in den »Rings« zu leben — einige von ihnen scheinen notfalls auch bereit, die Menschheit zu ihrem »Glück« zu zwingen.

Wenn dieser Plan der Ringers den*die ein oder andere*n Leser*in an die Ideen von heutigen »rocket billionaires« wie Elon Musk erinnert, dann ist das Absicht: Auch Judy ist schockiert, weil sie sich an eine Ideologie erinnert fühlt, die sie überwunden geglaubt hatte. Die einst mächtigen Konzerne der Welt haben den Kampf um Macht gegen die watersheds verloren. Doch manche Menschen hängen noch der alten Ideologie vom Streben nach unendlichem Wachstum und Profit an. Sie leben auf »aislands«, künstlichen Inseln, und warten nur auf eine Gelegenheit, wieder nach ihrer alten Macht zu greifen. Und obwohl sich schnell Sympathien zwischen den Bewohnern des Chesapeake watersheds und einzelnen Ringers ergeben, sind die Außerirdischen auch bereit, mit den Vertreter*innen der Konzerne zu verhandeln, wenn sie das näher an ihr Ziel bringt, die Menschheit zu überzeugen, ihren Heimatplaneten zu verlassen.

Aber nicht nur die Konzerne wollen den Ringers ins All folgen: Die USA senden Wissenschaftler*innen der NASA, für die die Begegnung mit den Außerirdischen die Chance bedeutet, die in den letzten Jahrzehnten weitgehend eingeschlafene Erkundung des Weltalls wieder aufzunehmen. Die NASA-Gesandten begegnen den Ringers mit einem entwaffnenden Enthusiasmus — »They have a Dyson sphere!« —, und spätestens hier wird deutlich, dass in der radikalen Umstrukturierung der Gesellschaft des Romans, so utopisch sie in vielerlei Hinsicht scheint, auch etwas verloren gegangen ist. Die NASA schaute zwar mit ihren Teleskopen in die Sterne, sagt Judy an einer Stelle etwas despektierlich, aber »didn’t think it their business to look back down«. Den watersheds aber kann man den umgekehrten Vorwurf machen: Sie scheinen so sehr damit beschäftigt, nach unten zu schauen, dass ihnen ein wenig der Entdeckergeist verloren gegangen ist. Es gibt ja diese Linie der Kritik an den »rocket billionaires«: Man solle erstmal unsere Probleme hier auf der Erde lösen, meinen manche, bevor man Ressourcen darauf verschwende, den Weltraum zu erforschen. So wenig ich für die Musks und Bezos’ der Welt übrig habe, ging mir die vollständige Ablehnung von Weltraumexploration immer zu weit, und Emrys lässt eine der NASA-Wissenschaftler*innen artikulieren, warum:

[T]here’s a symbiosis between space travel and planetary life, too. NASA has always done both. We learn things from research in a different environment, or just from surviving the vacuum, that we bring back to Earth to make it livable.

Man verrät nicht zu viel, wenn man schreibt, dass sich schnell eine Kompromisslösung zwischen der Vision der Ringers und der der watersheds als wünschenswert herauskristallisiert, die zu erreichen dann Judys eigentliche Herausforderung wird. Emrys — auch hier muss man an Le Guin denken, die The Dispossessed, ihrer Vision einer anarchistischen Gesellschaft, den Untertitel »an ambiguous utopia« gab — sieht ihre Utopie nicht als »Endstadium«, als das statische, endgültige Ziel von Veränderung; die Offenheit für weitere Veränderung, die Bereitschaft, sich weiter selbst zu hinterfragen, muss Teil eines wirklich utopischen Gesellschaftsentwurfs sein.

Es sind nicht nur verschiedene Ideen über die Zukunft der Menschheit, die Konflikt zwischen den Parteien verursachen: Ein faszinierender thematischer Strang des Romans sind die verschiedenen Konzeptionen von Gender, Geschlechterrollen und Familienmodellen. Der Umgang der watersheds mit Gender ist so utopisch wie der mit der Natur: Zu einer »normalen Kindheit« gehört hier — wenn man sich nicht gleich für eine genderneutrale Erziehung entscheidet — mindestens, dass die Eltern einen alternativen Namen in der Hinterhand behalten, falls das Kind sich am Ende mit einem anderen Geschlecht identifiziert als dem angenommenen. Die Frage nach Pronomen ist so selbstverständlich wie die nach Namen, queere Patchworkfamilien und Beziehungsmodelle jenseits der monogamen Heterobeziehung sind der Standard, und niemand scheint mehr wegen seinem Geschlecht diskriminiert oder weniger ernstgenommen zu werden.

Die Ringers dagegen haben eine matriarchale Gesellschaft. Mutterschaft bedeutet Autorität — dass die Ringers Judy als Vertreterin der watersheds bevorzugen, obwohl die Community (und Judy selbst) am liebsten qualifiziertere Diplomat*innen entsenden würden, liegt an dem Zufall, dass Judy bei der ersten Begegnung ihr Baby auf dem Arm hatte. Bei den Ringers ist das diplomatische Tradition: Kinder symbolisieren Mutterschaft und damit Stärke, und, so die Theorie, sie entschärfen die Situation, erinnern alle Parteien daran, für wen sie hier eigentlich verhandeln. Männliche Ringers haben in dieser Gesellschaft eine untergeordnete Rolle — es ist etwa ein kleinerer Skandal, wenn im Laufe des Buchs ein männlicher Außerirdischer Judys Baby halten darf. Für Judy ist das ein weiterer Grund, skeptisch gegenüber dem Angebot der Ringers zu sein: So, wie beim Klimaschutz, hat sie auch beim Thema Geschlechtergerechtigkeit das Gefühl, dass die Menschheit gerade erst die Kurve gekriegt hat, gerade erst auf dem Weg der Besserung ist; könnte sich den Ringers anzuschließen einen Rückschritt bedeuten?

Die Anhänger*innen der Konzerne gehen auch hier ihren eigenen Weg: Bei ihnen hat sich eine radikale Trennung zwischen Familien- und öffentlichem Leben durchgesetzt. Dazu gehört auch, dass Gender in der Öffentlichkeit ausschließlich Performance ist, vollständig abgekoppelt von dem Geschlecht, mit dem man sich vielleicht im Privaten »identifiziert«. Die Angestellten »spielen« buchstäblich (manchmal mehrmals) täglich ein anderes »Gender«. Jede der diversen, wenig mit unserer Konzeption von »Geschlechtern« zu tun habenden Gender-Rollen geht mit spezifischen Verhaltensmustern und Kleidungsstilen einher. Ziel des für Judy (und wohl die meisten Leser*innen) einigermaßen ermüdend wirkenden »Spiels« ist, das sagen die Angestellten einigermaßen offen, den eigenen Einfluss zu vergrößern, die eigene Position in der Hierarchie des Konzerns zu verbessern.

Das wahre Genie von Emrys Roman, das, was A Half-Built Garden wirklich in der Liga von Le Guin mitspielen lässt, ist dass Emry nicht nur gleich mehrere faszinierende Gesellschaften der Zukunft entwirft, sondern auch glaubhaft aufzeigt, wie die Systeme, Technologien und Ideologien dieser Gesellschaft die Menschen (oder Außerirdischen), die in ihnen Leben, verändert. Judy, deren Eltern aktiv in der Revolution und der Errichtung der watersheds und dandelion networks waren, ist in die Ideologie der watersheds geboren und mit ihr aufgewachsen, und das prägt ihr Denken und Fühlen. Wenn etwa das Chesapeake-Netzwerk gehackt wird und eine Weile nicht verfügbar ist, hat das einen Effekt auf sie, der eher einer psychologischen Verletzung ähnelt als, sagen wir, dem Verlust eines Smartphones. Sie fühlt sich »naked and brainless«:

Normally the neighborhood offered layers to be read: auras of discussion and commentary and history. I could dive into upcoming repairs, stories behind flags, whether trees were blooming early or late. I’d feed in my own observations and judgments, too. Without that interaction, the world felt oddly shallow.

Nicht nur können wir Menschen eine andere Welt schaffen, legt Emrys nahe, diese Welt wird letztlich wiederum andere Menschen schaffen. Stellenweise ist es schwierig beim Lesen, den eigenen Zynismus abzustellen: Ist es wirklich glaubhaft, dass die Ringers von den Bewohner*innen der watersheds fast ausschließlich positiv aufgenommen werden — ohne Misstrauen, ohne Angst oder Ekel vor dem Fremden? Aber andererseits: Würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen so zentral sind, in der jede*m von uns selbstverständlich, unabhängig von »Leistung«, ein Dach über dem Kopf, Nahrung und medizinische Versorgung zustehen — würde uns das nicht verändern, würde es nicht genau dazu führen, dass unser erster Reflex, wenn wir jemandem Fremden begegnen, Gastfreundschaft und Vertrauen wären?

Das ist, woraus Emrys letztlich ihre Hoffnung auf eine bessere Welt zu schöpfen scheint, und sie greift damit eine Idee auf, die uns in der politischen Linken in den letzten Jahren ein wenig verloren gegangen ist. Ein zentrales Argument für die angebliche Endgültigkeit, die Alternativlosigkeit des Kapitalismus ist die Idee, dass seine Werte auf der »Natur des Menschen« basierten: Weil der Mensch von Natur aus »nun mal so ist« — egoistisch, misstrauisch, rücksichtslos —, weil Hierarchien und das Recht des Stärkeren nunmal der Weg der Natur seien, kann der Mensch sich nur in einem System organisieren, in dem das Streben nach persönlichem Profit belohnt wird, in dem es Gewinner und Verlierer gibt und in dem jede*r in letzter Konsequenz auf sich allein gestellt ist.

Das Gegenargument muss lauten, dass hier Henne und Ei vertauscht wurden: dass ein ungerechtes System, das Egoismus und unsolidarisches Verhalten belohnt, uns erst egoistisch und unsolidarisch macht; und dass umgekehrt ein gerechteres, auf Solidarität und Vertrauen basierendes System dazu führen wird, dass auch wir uns solidarischer verhalten, einander unterstützen anstatt nur den eigenen Vorteil zu suchen. Diese Annahme ist Voraussetzung für das Funktionieren so ziemlich jedes linken Konzepts, und wer verfolgt hat, wie auch und gerade dem Selbstverständnis nach »Linke« in den letzten zwei Jahren das Narrativ der rücksichtslosen, unsolidarischen Masse mitschrieben, bekommt eine Idee davon, warum die politische Linke derzeit so wenig bewegt.

Emrys’ Roman ist nicht »realistisch«, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es etwa Robinsons Roman ist. Die Autorin betont zwar in einem Nachwort, dass die meisten Technologien des Romans, zumindest in Grundformen, bereits existieren; dennoch geht es ihr hier natürlich nicht darum, eine akkurate »Vorhersage« zu machen — oder eine exakte Blaupause zu liefern —, wie eine postkapitalistische Welt aussehen könnte, und auch in Best-Case-Szenarien wird unsere Zukunft sicher anders aussehen als Emrys in ihrem Roman spekuliert.2 Aber in diesem einen Punkt ist A Half-Built Garden dann doch ziemlich realistisch, dieses eine Element ist unumgänglich: Wenn wir eine andere Welt wollen, uns ein »Ende des Kapitalismus« vorstellen wollen, müssen wir zunächst unsere falschen Ideen von der »Natur des Menschen« überwinden; wie die Organisation der watersheds und die Technologie der dandelion networks muss jeder realistische Gegenentwurf davon ausgehen, dass Menschen, unter den richtigen Bedingungen, rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst handeln, muss statt Konkurrenzdenken und Egoismus gegenseitiges Vertrauen und Solidarität belohnen.


Danke fürs Lesen! Wenn dir dieser Text gefallen hat und Du mehr über utopische Science-Fiction lesen willst, lies doch mal in mein Review über die Apple-TV-Serie For All Mankind.

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  1. …und generell dieses Gefühl, dass wir am Ende von etwas sind, dass die bestehende Ordnung zusammenzubrechen droht.↩︎

  2. Einige Elemente von Elrys Vision — wie die Gewichtung der Stimmen einzelner Bewohner*innen der Watersheds durch Algorithmen — finde ich sogar mindestens ein Bisschen gruselig, und wir sehen im Verlauf des Romans auch, wie auch dieses System fehleranfällig ist.↩︎



Date
August 19, 2022