Now Is Not the Time to Panic: Kevin Wilsons berührender Coming-of-Age-Roman parodiert die »Satanic Panic«

Ende 2019 las ich Kevin Wilsons Nothing to See Here, und seitdem macht Lesen mir ein bisschen weniger Spaß. Vielleicht war es das richtige Buch zur richtigen Zeit, vielleicht liegt es daran, dass es eins der letzten Bücher war, die ich vor der Pandemie zu Ende gelesen habe, vielleicht ist es einfach wirklich so gut — wahrscheinlich ist es eine Kombination aus all dem. Jedenfalls: Seitdem ist, ohne Übertreibung, keine Woche vergangen, in der ich nicht an Wilsons Buch gedacht habe, und kein Buch, das ich seitdem gelesen habe, hatte einen ansatzweise vergleichbaren Effekt.1

Nothing to See Here erzählt von Lillian, die zu Beginn ein ziemlicher Fuck-Up ist, und die dann von ihrer alten Schulfreundin Madison angeheuert wird, sich um die Kinder von Madisons Mann aus früherer Ehe zu kümmern. Die beiden Kinder haben die seltsame Eigenschaft, wenn sie aufgeregt oder wütend werden, in Flammen auszubrechen.

Das ist, finde ich, eine ziemlich grandiose Idee für einen Roman. Es ist aber auch die Sorte Idee, die oft zu Enttäuschungen führt. Derlei High-Concept-Prämissen halten selten, was sie versprechen — zu einfach ist es für Autor*innen, sich darauf auszuruhen, sich auf die Quirkyness, die eine solche Prämisse mit sich bringt, zu verlassen und wenig darüber hinaus anzubieten.

Aber Wilsons Roman hält, was die Prämisse verspricht — und viel mehr: Ich hätte von diesem Roman keinen so nuancierten, berührenden Blick auf Elternschaft erwartet, und keine so schonungslose Darstellung der Traumata, die Eltern in ihren Kindern auslösen können. Alles gefiltert durch die spezifische Perspektive Lillians, eine der eigenartigeren, unvergesslicheren Erzählstimmen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin.

Will sagen: Meine Hoffnungen für Wilsons kürzlich erschienenen neuen Roman Now Is Not the Time to Panic waren groß. Kann der Roman diese Hoffnungen erfüllen? Nein — ich mein, natürlich nicht, wahrscheinlich waren meine Hoffnungen ein Bisschen zu groß. Aber das heißt nicht, dass Now Is Not the Time to Panic für sich genommen nicht trotzdem lesenswert wäre.

Es geht um Frankie, die in der Kleinstadt Coalfield, Tennessee aufwächst, dort eine ziemliche Außenseiterin ist und sich furchtbar langweilt. Bis sie, im Sommer 1996, Zeke kennenlernt, der nach der vorläufigen Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter aus Memphis zu seiner Großmutter gezogen ist. Zeke und Frankie sind angehende Künstler*innen — sie Autorin, er Zeichner —, und entscheiden, zusammen Kunst zu produzieren. Sie entwerfen ein Poster mit einer Zeichnung von Zeke und einem Slogan von Frankie: »The edge is a shantytown filled with gold seekers. We are fugitives, and the law is skinny with hunger for us.« Zeke und Frankie hängen Kopien des Posters überall in Coalfield auf, und lösen damit etwas aus, was später als »Coalfield Panic« bekannt wird, Wilsons Parodie auf die »Satanic Panic« der 80er Jahre: Medien spekulieren wild über den*die Urheber*in des Posters, angebliche Exptert*innen dichten satanische Hintergründe dazu, Menschen fertigen ihre eigenen Varianten des Posters an, Touristen pilgern nach Coalfield. Sogar einige Tote gibt es. 20 Jahre später wird Frankie, mittlerweile eine erfolgreiche Jugendbuchautorin, von einer Reporterin kontaktiert, die herausgefunden zu haben glaubt, dass Frankie die Urheberin des Posters war, und sie überzeugen will, ihre Geschichte in einem Interview zu erzählen.

Wilson hat zwei große Stärken als Autor. Die erste ist sein Gespür für spezifische, aber glaubhafte Details: vom »Meet Cute« der Protagonist*innen bei einer bizarren, brutalen Tradition im örtlichen Schwimmbad, bis zu den spezifischen popkulturellen Reaktionen, die Frankies und Zekes Poster auslöst, etwa einen SNL-Sketch, »where it turned out that Harrison Ford was putting up the posters, though he blamed it on a one-armed man«, oder ein »twenty-seven-song concept album by the Flaming Lips called Gold-Seekers in the Shantytown«.

Wilsons andere große Stärke in Now Is Not the Time to Panic — wie auch schon in Nothing to See Here — ist die Erzählstimme. Frankies Ich-Erzählung hat einen ebenso einzigartigen Sound wie Lillians im Vorgänger. Ihre Gedankengänge und die Metaphern und Sprachbilder, die Wilson ihr in den Mund legt, wirken, als hätte Wilson sie irgendwo aufgeschnappt und mitgeschrieben, es sind die Sorte eigenartiger Gedanken und schiefer Vergleiche, die Menschen im echten Leben ständig denken und von sich geben, aber die sehr, sehr schwierig glaubhaft zu schreiben sind.

Das beste Beispiel für beides, Wilsons Blick für einprägsame Details und starke Erzählstimme, sind natürlich die Worte selbst, die Frankie auf das Poster schreibt: »The edge is a shantytown filled with gold seekers. We are fugitives, and the law is skinny with hunger for us.« Es bedeutet überhaupt nichts, aber man kann sich vorstellen, wie Menschen allerlei Bedeutung hineinlesen können, und das macht die »Coalfield Panic« um einiges glaubwürdiger.2 In weiten Teilen ist der Plot von Now Is Not the Time to Panic vorhersehbar, aber zusammen machen diese Stärken Wilsons Geschichte einprägsamer als den durchschnittlichen Coming-of-Age-Roman.

Wilson hat in verschiedenen Interviews darüber gesprochen, wie sein Tourette seine Arbeit beeinflusst, wie er die intrusive thoughts, die verstörenden Bilder und Gedanken, die sich in seinem Kopf festsetzen, zur Inspiration für sein Schreiben nimmt, und wie er seine Gedankenschleifen als eine Art Schreib-»Werkzeug« nutzt:

[O]ne of the things that helped me creatively is if I know something’s coming back, if I can hold it in my head, I can let it go knowing it’ll come back. And when it comes back, I can do something slight to alter it. And then it’ll come back again. That’s how I tell stories. I tell it in my head over and over and over again, and each time it gains a little depth, a little more nuance.

In Now Is Not the Time to Panic lässt sich dieser Einfluss sehr direkt daran festmachen, dass auch Frankie solche Gedankenschleifen hat, dass sie die Phrase wie eine Art Mantra wiederholt, dass sie gedanklich immer wieder diesen Sommer mit Zeke durchlebt. Und vielleicht ist Wilsons Neurodivergenz und die damit verbundene Arbeitsweise und Perspektive auch ein Grund dafür, warum Now Is Not the Time to Panic im Gedächtnis bleibt, warum diese oberflächlich betrachtet vorhersehbare, oft erzählte Geschichte sich spezifisch und unverbraucht anfühlt. Now Is Not the Time to Panic wird keinen erneuten dreijährigen Lesehangover bei mir auslösen, und es ist zweifelsohne ein weniger vielschichtiges Buch als Nothing to See Here. Aber eines der unterhaltsameren und berührenderen Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe, ist es trotzdem.


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  1. Ich hätte mich in der Zeit natürlich durch Wilsons bisherige Bibliographie lesen können, aber außer ein paar (sehr guten!) Kurzgeschichten aus Baby, You’re Gonna Be Mine habe ich darauf vorerst verzichtet, weil zu viele interessante neue Bücher erscheinen und, keine Ahnung, ich das Gefühl mag, diese Bücher in der Hinterhand zu haben für den Moment, wenn ich sie brauche (was immer das heißt) oder so.↩︎

  2. Tatsächlich hat Wilson diesen Satz einmal von einem alten Freund gehört, der später an Covid gestorben und dem das Buch gewidmet ist. Aber man muss halt erstmal ein Ohr für solche Sätze haben, und Charaktere schreiben können, denen man sie glaubhaft in den Mund legen kann,.↩︎



Date
January 10, 2023