Musik für die Krise (& darüber hinaus): The Mountain Goats’ Songs for Pierre Chuvin

Ich bin kein religiöser Mensch, oder ein »spiritueller« (ich habe nie verstanden, was das heißt, ich glaube man sagt das, wenn man keine kohärente Weltanschauung hat, aber Menschen trotzdem genauso auf den Sack gehen will wie die wirklich Gläubigen). Aber ich habe ein paar Rituale, die mir einen gewissen Trost, eine gewisse Sicherheit geben. Eins davon: Zu den ersten Dingen, die ich jedes Jahr, so kurz nach dem Jahreswechsel wie möglich, zu tun versuche, gehört, This Year von den Mountain Goats zu hören. Es ist jetzt nicht der originellste Brauch —— ich mein, hört auf die Lyrics:

I am gonna make it through this year
If it kills me

Aber genau das ist ja der Punkt: Ich teile diesen Brauch mit vielen anderen Fans der Band, und das gibt mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. Und Mountain-Goats-Fans sind eine Gruppe, der ich mich gerne zugehörig fühle: Es ist die Sorte Menschen, die in frenetischen Applaus ausbrechen, wenn Sänger John Darnielle in You Were Cool, einem Song für eine ausgegrenzte Highschool-Freundin, die Zeile »I hope the people who did you wrong have trouble sleeping at night« singt.

Darnielles eigene Geschichte, und wie er sie in seiner Musik erzählt hat, zementiert diesen Eindruck der Band als eine für eine bestimmte Sorte Mensch: Außenseiter, Überlebende, Opfer, die sich weigern, welche zu sein. Sein Meisterwerk ist das 2005er Album The Sunset Tree, das auch This Year enthält: Nach einer ganzen Reihe von Mixtapes und Alben, die vornehmlich Songs über fiktionale Charaktere enthielten, hatte Darnielle mit dem Vorgänger, We Shall All Be Healed, begonnen, autobiographisch zu schreiben. Doch The Sunset Tree ist noch eine Spur direkter, unverschlüsselter —— und, als Konsequenz, streckenweise schwerer anzuhören: Darnielle verarbeitet sein Verhältnis zu seinem Stiefvater, der ihn und seine Mutter misshandelte, bis zur Bewusstlosigkeit verprügelte. The Sunset Tree ist, schlicht und einfach, eins der besten Alben, die ich kenne, und eins der stärksten Argumente für die heilende Kraft von Kunst und Musik. Es ist ein wütendes, oft herzzerreißend trauriges, genauso oft aber trotzig lebensbejahendes Album, und es endet auf einer Note beinahe übermenschlicher Empathie und Versöhnlichkeit, einer, zu der nur fähig ist, wer sein Trauma wirklich und vollständig konfrontiert und verarbeitet hat. Wer mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat, den hinterlässt The Sunset Tree mit einem kostbaren Gefühl: einer Hoffnung, dass dieser Kampf wirklich irgendwann vorbei sein kann, dass es möglich ist, seine Dämonen vielleicht nicht zu besiegen, aber seinen Frieden mit ihnen zu schließen.

All dieser Hintergrund ist wohl nötig, um zu verstehen, welche emotionale Wucht Exegetic Chains für mich hatte, der Closer vom neuen Album der Band, Songs for Pierre Chuvin. Die neun Songs davor sind inhaltlich eher esoterisch-bis-kryptisch —— das Album ist inspiriert von einem Buch über die letzten Anhänger heidnischer Kulte zur Zeit des frühen Christentums in der Spätantike. Dieser hier ist, von ein paar mythologischen Referenzen abgesehen, sehr direkt und unverschlüsselt, eindeutig geschrieben für jetzt, für diesen Moment; und er ist schamlos selbstreferenziell. Am prominentesten ist ein Callback zu Darnielles größtem Song:

Make it through this year
If it kills us outright

Dasselbe trotzige, bewusst widersprüchliche Durchhaltemantra wie in This Year, nur diesmal nicht als Erinnerung an ein traumatisches Jahr in Darnielles Vergangenheit, sondern als Aufforderung an uns alle. Was wir gemeinsam durchhalten sollen, gut, das ist eigentlich selbstverständlich, aber die zweite Strophe macht es nochmal ganz deutlich:

The coins they toss at dancers
Whirling in the city square
Music on the air
The places where we met to share
Our secrets now and then
We will see them again

Es ist eine Art von Fanservice, Nostalgie und Direktheit, von Gefallenwollen, die Darnielle sonst eher fremd ist; das ist, warum es funktioniert: Weil die Mountain Goats sonst nicht die Sorte Band sind, die irgendwelchen »Trends« oder dem »Zeitgeist« folgt, unterstreicht es die Ausnahmebedeutung dieses Moments, dass die Band ihn so direkt kommentiert; und dass Darnielle in seinem Callback daran erinnert, wie er uns einst an einer düsteren Phase seines Lebens teilhaben ließ, nimmt dem Song auch ein Stück weit diese gewisse Marie-Antoinette-Haftigkeit, die derzeit immer mitschwingt, wenn uns reiche, berühmte Menschen versichern, dass wir »all in this together« sind. Wir hören derzeit täglich Durchhalteparolen, von vielen Seiten, und die meisten hören sich für mich zunehmend leer an; aber das hier, das funktioniert, zumindest wenn man eine Geschichte mit der Band hat, wenn der Gedanke, irgendwie Teil von etwas zu sein, den die Band und ihr Fandom gibt, einen schon durch so manch schwierige Silvesternacht gebracht hat.

Als Ganzes ist das Album eine interessante Kombination zweier Schaffensperioden der Band: Wie die letzten paar Alben ist Songs for Pierre Chuvin ein loses Konzeptalbum über eine sehr spezifische, esoterische, von außen betrachtet vage kultförmige »Subkultur« —— zuletzt waren es professionelles Wrestling (Beat the Champ), Goths (ähh, Goths) und, sagen wir, Fantasy-Bullshit (In League With Dragons), die Darnielle so bearbeitete, jetzt eben Heiden der Spätantike. Akustisch allerdings steht das Album in der Tradition der frühen Alben, oder, besser, Mixtapes der Band, die Darnielle vornehmlich allein, meist nur mit Akustikgitarre auf das rauschende Tape einer Panasonic-Boombox aufnahm; nachdem die Mountain Goats die Arbeit an ihrem eigentlich geplanten nächsten Album aus offensichtlichen Gründen hatten unterbrechen müssen, kramte Darnielle die alte Boombox raus (und stellte sie auf die Seite, um ein seltsames Klicken in seinen Aufnahmen zu unterdrücken) und forderte sich heraus, 10 Songs in 10 Tagen aufzunehmen.

Für eine bestimmte Art von Mountain-Goats-Fan dürfte Songs for Pierre Chuvin daher mehr noch sein als Fanservice: ein Wiederaufleben besserer Zeiten. Eine kleine, aber leidenschaftliche Gruppe Fans ist bis heute der Meinung, dass die Musik ihre Energie, Spontaneität, ihre, ugh, Authentizität verlor, als die Band, nun, eine Band wurde, mit dem ersten in einem echten Studio entstandenen Album, dem 2002er Tallahasse.

Doch wenn akustisch zweifelsohne ein Throwback, ist das nicht alles, was Songs for Pierre Chuvin ist. Vielmehr unterstreicht die Kombination der alten Aufnahmetechnik mit dem Hochkonzeptionellen des Spätwerks das Thema von Kontinuität, das, unter anderem, hinter der Entscheidung steckt, einen Song wie Exegetic Chains auf eine Sammlung von historisch inspirierten Songs folgen lässt. Darnielles über die Jahre gereiftes Gitarrenspiel hilft weiter, das Album vom Frühwerk der Band abzuheben: War Darnielles Methode damals in etwa, so laut zu schrabbeln, wie er konnte, und noch ein Bisschen lauter zu singen, spielt er hier mit mehr Dynamik, nutzt die Aufnahmetechnik, die damals eher der Notwendigkeit als künstlerischer Entscheidungen geschuldet war, bewusster; die leisesten Töne des Albums verschwinden fast im Rauschen des Tapes, wie die Erinnerung an diese Episode der Geschichte, die Darnielle hier lebendig werden lässt, fast verblasst ist. Für lautes Geschrabbel und noch lauteres Singen ist aber auch hier Platz, wie in Until Olympius Returns, ein Song in einer langen Reihe von Mountain-Goats-Songs über die erhoffte Rückkehr einer quasi- oder buchstäblich mythologischen Figur, die vielleicht kommen wird, vielleicht nicht.

Ich weiß nicht, wie ich das in ein paar Monaten sehen werde, aber jetzt gerade scheint es mir, als hätte Songs for Pierre Chuvin größere Chancen, als eigenständiges Kunstwerk zu überdauern als viel andere Kunst, die gerade entsteht. Und zwar gerade, weil es, obwohl lyrisch so verschroben, in Entstehung und Sound so eindeutig of the moment ist: Darnielle hätte sich mit dem Rest der Band über Zoom verabreden und gemeinsam jammen können, stattdessen hat er sich zurückgezogen, ein Stück weit zurückentwickelt. All die Botschaften, dass wir alone together seien, das hat seinen Wert alles, aber je länger dieser historische Moment dauert, desto falscher fühlt es sich für mich an: Wir sind eben nicht zusammen, und werden es nicht sein, bis wir uns wieder treffen können an diesen Plätzen, die Darnielle besingt, wo wir einst unsere Geheimnisse geteilt haben. Ein Album, das so seltsam aus der Zeit gefallen klingt, so aus Notdürftigkeit entstanden ist wie Songs for Pierre Chuvin, eins, das sich erstmal in sich selbst, in verschrobene, esoterische Gedankenwelten zurückziehen muss, bevor es uns die Hand reichen kann, bevor es doch eine trotzige Hoffnung findet; ein Album, das die Einsamkeit und Seltsamkeit und Geschichtsträchtigkeit dieses Moments einfängt, ohne nur als Gebrauchstext für diesen Moment zu dienen: So ein Album holt mich gerade mehr ab als Songs darüber, dass wir nie »wirklich« allein sind, solange wir Skype installiert haben. Und ich glaube, ein solches Album wird auch in ein paar Monaten, in einem Jahr nicht seine Bedeutung verloren haben; es ist ein Album für diesen historischen Moment, das ihn gleichzeitig einordnet neben die vielen Momente, die vorher kamen, die fast vergessen sind, so wie dieser Moment irgendwann vergessen sein wird. In einer solchen Realisierung, das ist Darnielles Botschaft, kann man Hoffnung finden —— wenn man bereit ist, gleichzeitig die existenzielle Düsternis, die ebenfalls darin wohnt, zu konfrontieren. If it kills us outright.



Date
May 21, 2020