Löscht nicht euren Twitter-Account, startet ein Blog

Zwei Reaktionen dominierten meine Twitter-Timeline im Vorfeld der Übernahme durch Elon Musk: ostentatives Aufatmen (»Hoffentlich kauft Musk Twitter, dann haben wir einen Grund, es zu verlassen, und sind endlich frei«) und Verteidigen des eigenen Territoriums (»Wenn Musk kommt, gehe ich!«). Das fasst das Verhältnis zu Twitter, das viele von uns haben, glaube ich ganz gut zusammen: Twitter ist scheiße, finden wir, aber es ist unsere Scheiße, verdammt nochmal, Finger weg!

Jetzt, wo es — zu meiner Überraschung, muss ich gestehen — tatsächlich zu dieser Übernahme kommt, gibt es von beidem noch immer ein Bisschen, aber nach und nach kommen die meisten doch irgendwie zu dem unvermeidlichen Schluss: It just doesn’t matter. Also, tut es schon, irgendwie: Es ist halt ein weiterer, sehr deutlicher Hinweis, dass die Welt, in der wir leben, jetzt vielleicht noch nicht die bestmögliche ist — wenn es möglich ist, dass ein milliardenschwerer Trickbetrüger aus einer Laune heraus eine Plattform kaufen kann, die man aufgrund ihrer Größe und Rolle in unserer Online-Kommunikation im Grunde als kritische Infrastruktur bezeichnen muss, vielleicht sollten wir dann mal drüber nachdenken, ob wir nicht doch ein, zwei Dinge ändern könnten daran, wie diese Gesellschaft organisiert ist.

Aber für unsere tägliche Nutzungserfahrung auf der Website Twitter dot com wird das keinen großen Unterschied machen. Es wird nicht lange dauern, bis Musk merkt, dass eine solche Plattform zu führen a) Arbeit und b) kompliziert ist, dass möglichst oft »Freedom of speech!« zu brüllen noch nicht als kompetentes Management durchgeht, und dann wird er das Tagesgeschäft wieder jemand anderem überlassen und wir merken wenig von Musks Einfluss. Glaube ich. Hoffe ich.1

Trotzdem ist Musks Takeover für viele von uns Grund, unser Verhältnis zu Social Media und den Plattformen, die wir nutzen, zu überdenken, und das finde ich erstmal nichts schlechtes. Wovon ich nicht unbedingt viel halte, ist im Affekt seinen Twitter-Account zu löschen: a) werden die meisten von uns ja doch zurückkommen, wenn wir merken, dass auf Mastodon trotz einiger Gleichgesinnter, die mit uns gewechselt sind, nicht viel los ist, und b) ist das mit der demonstrativen Verweigerung, Produkt X oder Service Y zu nutzen, ja immer so ne Sache, wirklich verändern tut das nichts. Dennoch: Mich stört das schon, diese Elon-Musk-Sache, und ist ja nicht so, als hätte ich mich vorher auf Twitter so 100% wohlgefühlt, also habe ich mal überlegt, wie man diese Protest-Energie, die jetzt irgendwie da ist, halbwegs produktiv nutzen könnte, ohne deshalb gleich darauf verzichten zu müssen, Teil der Konversation zu sein, die nunmal immer noch auf Twitter stattfindet. Im Ergebnis habe ich meinen Nutzen von sozialen Medien ein Bisschen umstrukturiert — keine Ahnung, ob ich das so beibehalten werde, und wenn ihr mir auf Twitter folgt, aber nicht unbedingt Interesse an solchen Meta-Überlegungen habt, könnt ihr hier aufhören zu lesen, es ändert sich effektiv nichts für euch; aber vielleicht inspiriert es ja den einen oder anderen, oder es wird wenigstens lustig, sich das in nem Jahr durchzulesen und zu sehen, wie naiv ich war.

Das Stichwort lautet POSSE: Publish (on your) Own Site, Syndicate Elsewhere. Ich hab ja eh schon dieses Blog und die Domain dazu und vieles, was andere eher in einen Twitter-Thread packen würden, erscheint bei mir hier, und ich kann euch diese altmodische Art, im Internet zu publizieren, nur empfehlen: Nur so macht ihr euch wirklich unabhängig. Anstatt regelmäßig zu überlegen, was die am besten geeignete Plattform ist (oder welche am wehnigsten wehtut), um im Internet zu kommunizieren und zu publizieren, anstatt immer wieder aufs Neue Energie und Zeit in das Einrichten eines Profils bei der Plattform des Moments investieren zu müssen, richtet ihr euch euer eigenes kleines, permanentes Zuhause im Netz ein, und nutzt die großen Plattformen vor allem, um Leute dorthin zu leiten. Wenn irgendwas passiert, das euch unzufrieden(er) mit einer Plattform macht, tut euch das nicht weiter weh: Für euch war diese Plattform immer nur Mittel zum Zweck, immer nur Zweitverwerter, richtig einrichten wolltet ihr euch hier nie und alles, was euch wirklich wichtig ist, erscheint an einem sicheren Ort, über den ihr allein die Kontrolle habt.

Zukünftig soll diese Website auch noch mehr mein Social-Media-Zuhause sein: Viel von dem Bullshit, den ich bisher nur auf Twitter raushaue, poste ich jetzt erstmal hier. Das läuft via micro.blog, was auch irgendwie Social Media ist, aber nicht wirklich: Im Grunde sind es ein paar Blogs in einem Trenchcoat, die sich als Social Media ausgeben, statt ein Profil legt man halt ein Blog an, auf dem man seine Inhalte postet, und die werden dann in eine twitterähnliche Timeline aggregiert. Man könnte ähnliches auch mit WordPress machen, oder mit Blot, der Software, über die mein Blog läuft, aber micro.blog verbindet halt elegant die Bequemlichkeit moderner sozialer Medien mit den Prinzipien von Blogging, das ging einfach schnell, das so einzurichten, plus, ich mag das halt auch als Plattform für sich, mein Blog publiziert schon eine Weile lang automatisch alles auch dort. Man behält dort die Kontrolle über seine Inhalte, und es ist in alle Richtungen offen — nicht nur konnte ich da eben den existierenden RSS-Feed meines Blogs eintragen, damit auch meine Posts hier in der Timeline erscheinen, es geht auch in die andere Richtung: Meine Posts dort werden »syndiziert« an Twitter, auf meinen regulären Account, und an Mastodon, damit ihr Weirdos, die das nutzen wollen, mir auch folgen könnt (entweder meinem »echten« Mastodon-Account auf mastodon.social, oder direkt meinem micro.blog-Account über das etwas unhandliche Mastodon-Handle @smoitzheim@micro.sebastianmoitzheim.de; letzteres ist mir lieber, dann sehe ich eure Replies direkt in meiner micro.blog-Timeline und muss nicht Mastodon öffnen).

Um noch ein Bisschen deutlicher zu unterstreichen, dass Twitter zwar ist, wo die Konversation ist, an der ich teilnehmen will, aber nicht mein Social-Media-»Zuhause«, habe ich außerdem meine TweetDelete-Settings nochmal angepasst, statt nach 6 werden meine Tweets jetzt nach 3 Monaten automatisch gelöscht. Twitter hat meine Inhalte also, wenn man so will, nur für eine Weile lizensiert anstatt dass ich sie dauerhaft dort publiziere; wer, warum auch immer, ein Archiv meiner Posts ansehen will, ist hier, eben im Ökosystem meiner persönlichen Website, am besten aufgehoben. Oder, I guess, bei Mastodon, zumindest bis ich herausgefunden hab, wie man da auch so eine automatische Löschung einstellen kann.

Ändert das irgendwas? Nö, nicht wirklich, weder im Sinne von »es macht einen Unterschied für Twitter und seinen ekligen neuen Besitzer« noch im Sinne von »es ändert groß die Erfahrung meiner Follower*innen«. Es macht mich halt nur ein Bisschen unabhängiger von Twitter, ich könnte jetzt theoretisch meinen Twitter-Account löschen, ohne irgendwelche Inhalte zu verlieren, was ich nicht machen werde, aber ist doch schön zu wissen, oder?

Ich finde das auf jeden Fall sinnvoller, als unter Protest seinen Twitter-Account zu löschen oder sich allzu sehr auf Mastodon oder irgendeine andere Plattform einzuschießen, die am Ende ja doch nicht der Twitter-Killer wird. Wenn ihr auch überschüssige Protestenergie habt, aber jetzt auch nicht ausreichend davon, um euch ein neues Social-Media-Zuhause einzurichten, euch mit irgendwelchen IndieWeb-Prinzipien auseinanderzusetzen oder irgendwelche mehr oder weniger vielversprechenden neuen Plattformen anzugucken, lasst mich euch als kleinen, einfachen Schritt empfehlen: Reserviert euch, wenn noch nicht geschehen, zumindest schonmal eine eigene Domain. Ihr könnt euch dort ein Blog anlegen2, oder eine simple Profilseite, von mir aus auch einfach euer Linktree oder ähnliches verknüpfen; oder ihr macht erstmal gar nichts damit, aber seid dann beim nächsten Mal, wenn euch eine feindliche Übernahme oder ähnliches veranlasst, über eure Beziehung zu Social Media nachzudenken, schonmal einen Schritt weiter. .de-Domains sind ziemlich günstig, ich zahl gerade glaub ich mit ein Bisschen Webspace so 20€ im Jahr. In der Theorie würden wir, denke ich, alle gerne unsere Abhängigkeit von den Content-Silos überwinden; meines Erachtens sollte das Ziel aber nicht sein, dass wir alle dieselbe neue, bessere Plattform nutzen: Das Internet, was ich mir wünsche, ist eines, in dem wir alle unsere eigene kleine Plattform haben, i.e. eine persönliche Website, und diese dann miteinander vernetzen, und die großen Plattformen nur noch als Vermittler und Mittel zum Zweck betrachten, nicht als unser eigentliches Zuhause.3 Der Weg dahin ist lang, aber das gute ist halt, dass jede*r einzelne von uns sich heute schon auf diese Art einrichten kann, ohne darauf verzichten zu müssen, an der Konversation auf den großen Plattformen teilzunehmen.


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  1. Es gibt durchaus Gründe, sich Sorgen zu machen, etwa darüber, was Musks Interpretation von »free speech« für die Trans-Community bedeutet.↩︎

  2. Hier sind ein paar Tipps, welche Software ihr dafür nutzen könnt.↩︎

  3. Dieser Gedanke ist mit dem des »Fediverse«, zu dem Mastodon gehört, ja durchaus kompatibel. Das schöne an sowohl Mastodon als auch micro.blog und diversen anderen kleinen Plattformen ist ja vor allem, dass sie keine Silos sein wollen, sondern es unterstützen, wenn jede*r die Plattform seiner*ihrer Wünsche nutzt. Die Plattform eurer Wünsche sollte meiner Meinung nach halt zu allererst euer eigenes Blog sein, und das könnt ihr dann genauso wie in die Content-Silos auch ins Fediverse »syndizieren«.↩︎



Date
April 27, 2022