Hustlers ist ein Meisterwerk über Kontrolle und ihren Verlust

Die erste Wahl der Produzenten für die Regie von Hustlers, bevor sie Lorene Scafaria ihr eigenes Drehbuch verfilmen ließen, war Martin Scorsese; (sehr) oberflächlich betrachtet macht das Sinn — Scorseses GoodFellas ist eine naheliegende Referenz für Hustlers —, aber mit nur ein wenig Reflektion ist es bizarr: Scorsese, bei all seinen Qualitäten als Filmemacher, ist notorisch desinteressiert an weiblichen Figuren; warum sollte gerade er die richtige Wahl sein für die Inszenierung eines Films, der im Grunde ausschließlich weibliche Figuren hat — eine bessere Wahl als die Autorin des Drehbuchs, die nach zwei Features und zig TV-Episoden auch alles andere als unerfahren als Regisseurin ist? Bedenkt man, wie auf der anderen Seite die Colin Trevorrows dieser Welt, getreu dem Prinzip failing upwards, von einem großen Franchise zum nächsten schlendern, ist es bemerkenswert, dass Scafaria diesen Film, der nichtmal ein besonders großer Sprung im Budget im Vergleich zu ihren früheren Projekten war, erst nach Absage eines männlichen Regisseurs und Vorlage eines Demo-Reels inszenieren durfte.

Aber gut: Scorsese hat abgesagt, und Scafaria hat die Produzenten mit ihrem Demo-Reel überzeugen können. Und sie hat einen Film inszeniert, den weder Martin Scorsese noch irgendein anderer männlicher Regisseur hätte machen können, und der, wenn es irgendeine Form von Gerechtigkeit gibt, die noch immer beschämend kurze Liste der für den Oscar für die beste Regie nominierten Regisseurinnen um einen Namen erweitern wird.

Eine Möglichkeit, den Plot zu beschreiben, lautet in etwa: »Hustlers ist ein Film über eine Gruppe von Stripperinnen, die reiche Männer mit Drogen betäuben, um Zugang zu ihren Kreditkarten zu bekommen«; eine andere wäre: Hustlers erzählt die Finanzkrise von 2008 nicht aus der Perspektive von Bankern, CEOs und Investoren, sondern aus der der Stripperinnen, denen sie Geldscheine in die G-Strings stecken. Und das —bekannte Geschichten aus einer neuen Perspektive erzählen —beschreibt nicht nur das große Ganze, sondern auch viele kleine, aber effektive inszenatorische Entscheidungen Scafarias. Besonders prägnant ist das in der Einführung von Jennifer Lopez‘ Ramona. Lopez performt einen Pole Dance, der, in-fiction, ein Publikum aus heterosexuellen Männern erregen soll; doch der Male Gaze hat in der Szene keinen Platz: Der Fokus der Inszenierung liegt weniger auf dem Zurschaustellen von Lopez’ Körper als auf der sportlichen Leistung ihres die Schwerkraft überwindenden Tanzes; die Reaktionen der Männer sehen wir nur flüchtig, sie bleiben, fast buchstäblich, gesichtslos (wir sehen sie größtenteils von hinten) — — selbst, wenn Ramona sie körperlich in ihre Performance einbindet, sind sie mehr Requisiten als Akteure mit agency.

Wie viele Szenen in Stripclubs haben wir gesehen — besonders in Gangster-Filmen (von denen Hustlers inspiriert ist) und Filmen, die im Wall-Street-Milieu spielen — , in denen Tänzerinnen nur Teil des Szenenbilds sind? Nicht selten sind die Tänzerinnen ebenfalls gesichtslos: Die Kamera bleibt auf Höhe der Männer, die unten, am Tisch sitzend, irgendein wichtiges Gespräch führen, sodass die Köpfe der Tänzerinnen nicht im Bildausschnitt sind. Ramonas Auftritt kehrt die Dynamik solcher Szenen um. Gleichzeitig etabliert die Szene so effektiv wie ökonomisch beide Hauptfiguren und die wichtigsten Themen des Films. Wenn Ramona für jemanden tanzt, dann für Destiny (Constance Wu), ein Neuzugang unter den Tänzerinnen des Clubs »Moves«; durch Destinys Augen sehen wir Ramonas Auftritt, und den Rest des Films. In ihrem Blick ist bereits die ganze Komplexität der Beziehung der beiden Hauptfiguren angelegt: wie ihre Verbindung ihnen ermöglicht, den Rest der Welt auszublenden, die Männer, die glauben, sich Kontrolle über sie gekauft zu haben, zu Requisiten zu machen; aber auch die Differenz in Autorität, in Macht zwischen den beiden, die sie nie ganz überwinden. Ramona flirtet mit Destiny, verführt sie vielleicht ein Stück weit— wenn Destiny sie später fragt, wie sie »so gut« geworden ist, ist bereits nicht ganz klar, wer hier wen aufgesucht hat und (ge-)braucht. Kontrolle fasziniert Scafaria: Es ist die dünne Linie zwischen Selbstverwirklichung und Erniedrigung, zwischen Freundschaft und Komplizenschaft, zwischen »Wir gegen den Rest der Welt«-Empowerment und rücksichtsloser, zerstörerischer Ausbeutung. Wenn Destiny Ramona bittet, sie in ihre Arbeit einzuweisen, will sie lernen, so zu tanzen wie Ramona, ja, aber vor allem will sie wissen, wie sie an den Punkt gelangt, wo sie entscheidet, wem sie einen Private Dance gewährt und wem nicht, anstatt um Kunden werben zu müssen. Bevor Destiny auf Ramona trifft, sehen wir einige ihrer Private Dances in einer Montage. Scafaria inszeniert sie in statischen, distanzierten Totalen, mit diegetischer Musik und Geräuschkulisse, und es ist naturalistisch und gritty und unerotisch; erst, als Destiny dank Ramona das Selbstbewusstsein und die Fähigkeiten erlangt, selbst die Kontrolle zu übernehmen, werden die Tänze sexy — obwohl wir eher weniger sehen: Scafaria und Kameramann Todd Banhazl wählen nun Close-Ups, die mehr andeuten als dass sie zeigen, und legen den Fokus erneut auf die Gesichter der Tänzerinnen anstatt auf die der Zuschauer, erzählen weiter konsequent aus Destinys Perspektive; jede Erotik entsteht nicht aus dem objektifizierenden Blick der Männer, sondern aus dem Bewusstsein der Frauen, Kontrolle über ihre eigene Sexualität zu haben, agency darin, wie sie sie einsetzen und verkaufen.

Destiny will, sagt sie früh zu Ramona, niemals von jemandem abhängig sein. Sie ist getrieben von Angst vor Kontrollverlust, auch vor Verlust der Kontrolle über die eigene Geschichte: Als Framing Device dient dem Film ein Interview Destinys mit Journalistin Elizabeth (Julia Stiles), Jahre nach ihrer Arbeit und den Verbrechen mit Ramona. Destiny misstraut Elizabeth, aber auch sich selbst; sie hinterfragt immer wieder die Motivation der Journalistin und muss sich gelegentlich stoppen oder korrigieren, um nichts über Ramona zu sagen, das ihr vielleicht nicht zusteht.

Ich war mir erstmal nicht sicher über diese Framing Device. Für die erste halbe Stunde ist Hustlers im Grunde eine Workplace Comedy, und die angespannten Interludes wirken wie Fremdkörper; Destinys Motivation, mit einer Journalistin zu sprechen, ist (bewusst) diffus, und die Framing Device kann auf den ersten Blick wie ein Genreklischee wirken anstatt wie ein organischer Teil der Erzählung.

Aber bald kristallisiert sich die Funktion heraus, und mehr und mehr ist es gerade dieser erzählerische Rahmen, der die bewegendsten Momente des Films schafft. Ganz am Ende ruft Destiny, nochmal lange nach dem ursprünglichen Interview, Elizabeth noch einmal an — sie habe gerade nochmal den längst veröffentlichten Artikel gelesen, und sei zu der Realisierung gekommen: Vielleicht hätten sie getan, was sie getan haben, weil, nun, »hurt people hurt people«. Es ist herzzerreißend in seiner Banalität, und es offenbart noch einmal überdeutlich, worum es hier eigentlich geht: Mehr als ein Geständnis ist das Interview ein — ziemlich verzweifelter — Versuch Destinys, im Nachhinein die Kontrolle zurückzuerlangen, die sie in ihrer Beziehung mit Ramona verloren hat. Elizabeth ermutigt sie, sich bei Ramona zu melden, ein angemessen ambivalentes Ende nicht nur für die Beziehung von Destiny und Ramona, sondern auch für die von Destiny und Elizabeth: Vielleicht, das hat sich bereits angedeutet, hat Elizabeth sich selbst ein wenig verführen lassen von Destiny und Ramona, hat selbst ein Bisschen die Kontrolle verloren über eine Beziehung, die eigentlich professionell sein sollte; aber jenseits der besonderen Geschichte von Destiny und Ramonas Beziehung ist es auch ein simples Eingeständnis, dass Freundschaft immer auch Verwundbarkeit erfordert, und damit ein Stück weit Kontrollverlust bedeutet.

Die Framing Device ist auch eine Möglichkeit für den Film, sich selbst zu hinterfragen. Je länger Hustlers dauert, desto mehr gewinnt der Rahmen auch in Destinys erzählter Geschichte an Präsenz: Wenn Destiny und Elizabeth einen Teil des Interviews am Telefon führen, klingt auch Destinys Voice-Over blechern, wie durch einen Handy-Lautsprecher; einmal wird der Dialog von Destiny und Elizabeth in der Gegenwart von Ramona in der Vergangenheit unterbrochen. Es erinnert uns daran, dass was wir sehen nur eine Version der Geschichte ist, dass eine Geschichte zu erzählen immer etwas manipulatives hat: Wer das Narrativ kontrolliert, kontrolliert auch die Sympathien des Publikums, kontrolliert, wer eine Stimme hat. Es hat etwas großzügiges, dass gerade dieser Film — einer, der Figuren zu Protagonisten macht, die sonst oft nicht mehr sind als Requisiten und Set-Dressing — — so hervorhebt, dass es andere, potenziell genauso valide Perspektiven auf diese Geschichte gibt. Wer nie die Kontrolle verliert, ist Lorene Scafaria: Hustlers ist mal roh und realistisch, mal überhöht, mal, wie in einer Visualisierung eines Albtraums Destinys, gar surreal; mal ekstatisch, mal elegisch; mal hält sich Scafarias Inszenierung bewusst zurück, lässt den Figuren den nötigen Raum, mal ist sie verspielt und, in angemessener Dosis, flashy: Eine Eskalation zwischen Elizabeth und Destiny wird in fast vollständiger Stille präsentiert — statt dem Streit der beiden hören wir nur ein statisches Summen — , nachdem Elizabeths Audiorecorder abgestellt wurde. So, wie der Soundtrack von Britney Spears zu Fiona Apple zu Chopin übergeht, verbindet Scafaria Einflüsse von Gangster-Film über Slice-of-Life-Drama bis zu 00er-Jahre R&B-Video, ohne dass irgendetwas davon wie ein Fremdkörper wirken würde, ohne dass die verschiedenen Tonalitäten, Stile und Grade an Überhöhung jemals clashen würden.

Viel wird über Constance Wu und J.Lo (ihre Performance & ihre physische Leistung) gesprochen, und zurecht; aber der wahre Star von Hustlers ist Scafaria. Ihre Inszenierung ist stylisch und ambitioniert, aber nie Selbstzweck, nie die Geschichte überlagernd: Es ist genau die Sorte Inszenierung, die nominierungs- und preiswürdig wäre; mindestens aber sollte Scafaria sich ihr nächstes Projekt aussuchen können, ohne warten zu müssen, bis ein anderer Regisseur abgesagt hat.



Date
November 16, 2019