Glühweinstände sind nicht das Problem, Merkels Rede war verlogen & wer anderes behauptet ist unsolidarisch und realitätsfern

Merkel

Kürzlich, im Rahmen der Haushaltsdebatte im Bundestag, hielt Angela Merkel —— Bundeskanzlerin, mächtigster Mensch Deutschlands, mächtigste Frau der Welt —— eine emotionale Rede. Es ging um den Umgang mit dem Corona-Virus an und um Weihnachten herum. Man müsse, so Merkel, doch eine Lösung finden, damit Menschen vor dem Weihnachtsfest mit der Familie eine Woche lang in »Vorquarantäne« gehen können —— den Beginn der Schulferien um drei Tage vorziehen, zum Beispiel; und: dass derzeit in vielen Städten Glühweinstände aufgebaut werden, vor denen sich Menschentrauben bilden, das —— und das tue Merkel »von Herzen leid« —— sei angesichts der aktuellen Infektionszahlen »inakzeptabel«. Vor Weihnachten müssten wir uns alle nochmal richtig anstrengen, Kontakte auf ein absolut nötige Minimum reduzieren, damit das Weihnachten mit den Großeltern nicht das letzte werde.

Die Reaktion auf diese Rede, aus so ziemlich allen politischen Lagern außer Nazis, ist ausgesprochen positiv. Menschen loben Merkels »Appell an die Vernunft«, ihre Emotionalität.

Ein paar Dinge, die Merkel nicht gesagt hat:

  • Es gibt Menschen —— wahrscheinlich gar die Mehrheit ——, bei denen das entscheidende Hindernis für eine »Vorquarantäne« nicht die Schulpflicht ihrer Kinder ist, sondern die Tatsache, dass sie Präsenzarbeit leisten müssen; könnte, müsste man da nicht auch was machen? Hätte man gar, und ich denke hier nur laut nach, Präsenzarbeit in nicht unbedingt nötigen Berufsfeldern schon viel früher verbieten müssen?
  • Glühweinstände mögen ein Problem sein, aber was ist mit den vielen nicht essenziellen Geschäften, die derzeit noch offen sind? Hat man uns im Sommer nicht gewarnt, dass es ungleich gefährlicher ist, wenn drinnen Menschengruppen zusammenkommen?
  • Und wo wir schon dabei sind: Wenn es »inakzeptabel« ist, jetzt draußen Glühwein zu trinken, warum ist das Weihnachtsfest mit den Großeltern dann akzeptabel? Es soll ja Menschen geben, für die draußen Glühwein zu trinken ein genauso wichtiger Teil von Weihnachten ist wie drinnen ——drinnen —— mit der Familie zu sitzen. Ist deren Lebensmodell an sich weniger schützenswert? Warum sollen diese Menschen auf ihren Glühwein verzichten, damit die anderen nicht auf ihr Weihnachtsfest verzichten müssen?

Böswillig, oder, you know, mit einem Mindestmaß an kritischer Reflexion betrachtet, könnte man sagen: Merkel mag das sicher ernstmeinen mit den Sorgen um die Infektionszahlen, aber es fehlt ein Bisschen an Selbstkritik, an Hinterfragen von gegebenen Verhältnissen, am Übernehmen von Verantwortung. Ich meine, was an Merkels Rede ist jetzt actionable, und für wen? Die Länderchefs sollen sich mal Gedanken machen über die Schulferien, da muss man doch eine Lösung finden, aber Merkel »will sich da auch nicht einmischen«, ist nicht ihr Zuständigkeitsbereich; und wir, wir Bürger*innen, sollen uns bitte mal ordentlich benehmen, was heißt: nicht draußen Glühwein trinken, keine Freund*innen mehr treffen, aber offenbar nicht: aufhören, unnötiges Zeug einzukaufen und unsere Familie zu treffen. Merkel selbst kann und muss offenbar wenig nachjustieren —— eine leidenschaftliche Warnung vor dem bösen Glühwein, viel mehr ist von der, wie war das, mächtigsten Person dieses Landes gerade nicht drin. Und anscheinend…reicht das? Es reicht dafür, dass sogenannte Linke auf Twitter mal wieder das kommende Ende der Merkel-Ära betrauern. You know, der Ära der schwarzen Null, 16 Jahre Sparpolitik, die vielleicht, wenn man denn weiter »böswillig« sein will, einen kleinen Anteil daran hat, dass es derzeit relativ wenig braucht, um unser Weltbestes Gesundheitssystem(TM) an den Rande der Kapazität zu bringen?

Gerade erschien auf Spiegel Online ein Kommentar von Sebastian Fischer mit dem Titel »Wir haben uns den Lockdown redlich verdient«. Das Kernargument: Es ist ein Widerspruch, einerseits jetzt den Notfall zu beschwören, andererseits erst nach Weihnachten einen »harten Lockdown« zu planen:

Entweder befinden wir uns in einer Notlage — gut, dann muss unverzüglich gehandelt werden. Oder eben nicht, dann können wir abwarten. Aber beides gleichzeitig kann nicht sein. Wir können nicht den Lockdown für unumgänglich halten, aber das Weihnachtsgeschäft noch mitnehmen wollen. Das ist die Methode Ischgl, die den österreichischen Skiort im letzten Winter zum Corona-Superspreader machte. Es gibt keine marktkonforme Pandemiebekämpfung.

Soweit, so logisch. Dann allerdings macht Fischer einen…interessanten argumentativen Schlenker. Warum, fragt er, musste es überhaupt soweit kommen, dass wir diesen »harten Lockdown« brauchen? Seine Antwort:

Denn es scheint, als ob wir trotz dieser allgemeinen Krisensituation, die jede und jeden betrifft, in unterschiedlichen Realitäten unterwegs sind. Und wir nehmen von der jeweiligen Realität der anderen kaum Kenntnis. Deshalb können sich die einen an verkaufsoffenen Adventssonntagen in den Einkaufscentern drängen, sich nachher am Glühweinstand verlustieren und sich dann darüber freuen, dass die staatlichen Regelungen so weit ausgereizt werden können. Während die anderen, zum Beispiel Krankenpfleger und Ärztinnen auf ihrem Heimweg, im Dunkeln an diesen Leuten vorbeischleichen, besorgt, ermüdet, ausgelaugt von einer schier unvorstellbaren Last in den Krankenhäusern.

Wir sind es, die Bürger, und unser Egoismus, unser fehlender Blick auf die anderen, aufs Gemeinwohl. Fischer diagnostiziert:

Wenn wir ehrlich mit uns sind, dann lassen wir in dieser Krise eine der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften des Menschen als soziales Wesen schleifen: die Solidarität.

Wie Merkels Rede findet Fischers Kommentar in meiner Schlaue-Linke-Menschen-Blase eine Menge Zustimmung. Und wie bei Merkels Rede denke ich: Häh?

Fischers Argument, dass es ein Widerspruch ist, den dringenden Notfall zu sehen, aber nicht umgehend zu handeln, liegt auf der Hand. Es liegt so sehr auf der Hand, dass die meisten Menschen es genauso sehen. Die überwältigende Mehrheit ist für einen harten Lockdown, und immer mehr auch gegen Lockerungen über Weihnachten. Wenn ich einen Text beginne mit dem Plädoyer für den harten Lockdown und dann auf die angeblich mangelnde Solidarität der Menschen komme —— hat es dann nicht Relevanz, dass die allermeisten dieser Menschen längst auf meiner Seite sind? Spricht das nicht dafür, dass es bei den meisten schon irgendwie einen Grundwillen zu solidarischem Verhalten, ein Mindestmaß an Sorge um die anderen und das Gemeinwohl gibt?

Kommentare, die unsere angeblich mangelnde Solidarität beklagen, gibt es seit Beginn der Pandemie, und sie waren, wenn man tatsächlich mal einen Blick auf die zur Verfügung stehenden Daten wirft, immer, zu jedem Zeitpunkt, Bullshit. Bewegungsdaten, Lebensmittel- und andere Warenabsätze, Fahrgastzahlen der öffentlichen Verkehrsmittel, Umfragen, alles, alles sprach und spricht immer dafür, dass die Mehrheit, die große Mehrheit, sehr wohl solidarisch handelt. Die meisten Menschen verzichten auf alles, was nicht nötig ist, machen sich Sorgen um ihre Nächsten und darüber hinaus, und wollen im Zweifelsfall härtere Einschränkungen. Ich weigere mich, euch das jetzt alles zusammenzugooglen, weil ich bin hier nicht in der fucking Bringschuld: Die Gegenargumente waren immer ausschließlich anekdotisch. Aber die Querdenker! Ja, cool, eine, aufs große Ganze gerechnet, verschwindend kleine Zahl von Verwirrten, die noch kleiner wäre, wenn wir sie nicht, wie es zuvor schon mit Pegida und der AfD so gut geklappt hatte, zur »ernstzunehmenden Bedrohung« hochberichtet hätten. Aber die Berliner Partyszene! Aber die Glühweinstände! OK, ja, sicher alles nicht cool, aber zeigt mir Zahlen, Zahlen, die eindeutig belegen, dass das größere Treiber der Pandemie sind als zum Beispiel Schulen und aus unerfindlichen Gründen von jeglicher Kontrolle und Einschränkung befreite Großbetriebe1, und ich esse vor laufender Kamera Werner Herzogs Schuh.

Ich finde es wirklich schockierend, wie bereitwillig Menschen, die sich selbst irgendwie »links« verordnen, das Narrativ übernehmen, dass a) mangelnde Solidarität der dummen »Masse« der größte Risikofaktor in dieser Pandemie wäre, und dass b) zufälligerweise immer genau die Lebensbereiche, Kulturpraktiken und Verhaltensweisen besonders gefährlich wären, die auch nur ein Bisschen von einem traditionellen, bürgerlichen, christlich geprägten Lebensentwurf abweichen. Wenn wir uns anschauen, wie sich Menschen während dieser Pandemie tatsächlich verhalten haben und verhalten, dann lässt das nur einen Schluss zu: »Von Natur aus« sind die allermeisten von uns sehr wohl solidarisch, rücksichtsvoll, aufs Gemeinwohl bedacht; aber wir leben in Systemen, die gegen unsere Natur arbeiten, die rücksichtsloses Verhalten fördern, rücksichtsvolles bestrafen oder gleich unmöglich machen. Erinnert ihr euch an die »#besondereHelden«-Spots der Bundesregierung, die »Nichtstun« in dieser Krise zum Heldentum hochstilisieren? Für wie viele Menschen in eurem erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis war »Nichtstun« dieses Jahr zu irgendeinem Zeitpunkt eine Option? In meinem Bekanntenkreis war es so, dass diejenigen, die Glück hatten, zu Hause arbeiten durften, das dann aber halt länger, härter und ohne Ausgleich durch ein normales Sozialleben; und die anderen, die mussten weiter ins Büro, Pandemie hin oder her, ungeachtet davon, wie essenziell der Bereich war, in dem sie arbeiteten, einfach, weil der Arbeitgeber das entschieden hat und entscheiden durfte. Das sind die Skandale dieser Pandemie, nicht, dass ihr gestern in der Bahn einen (1) Typen gesehen habt, der seine Maske falsch aufhatte.

Erst, wenn wir uns von dem Menschenbild verabschieden, das uns das »ihr hättet es selbst in der Hand«-Narrativ2 nahelegt, erst dann beginnen wir, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Antworten zu finden. Dass zum Beispiel in dieser Runde Lockdown die Menschen ein Bisschen weniger vorsichtig sind —— die Mehrheit, das gerne nochmal, ist aber weiterhin meistens vorsichtig ——, das kann man natürlich so lesen, dass unsere Solidarität Grenzen hat, dass Menschen eine trotzige »jetzt ist aber auch mal gut«-Mentalität angenommen haben; man kann allerdings auch erstmal fragen: Wenn Menschen an sich solidarisch sein wollen und es meistens sind, warum sind sie es dann jetzt etwas weniger als im Frühjahr? Und darauf kann man eine ganze Reihe von Antworten finden, die —— mit Blick auf, nochmal, alle Daten, die wir haben —— plausibler sind als die, dass jetzt doch nach Monaten von Solidarität unser inneres Arschloch zum Vorschein käme: Manche von uns können einfach nicht mehr; nach Monaten, in denen Sozialleben, Kultur, alles, was irgendwie Freude bringt, immer wieder ohne viel Zögern eingeschränkt wurden, aber für alles, was anstrengt —— Uni, Arbeit, Schule —— irgendwie immer Lösungen und Konzepte gefunden wurden3, geht uns langsam die Kraft aus. Und wenn man das anerkennt, wenn man von Nicht-Mehr-Können statt von Nicht-Mehr-Wollen ausgeht, dann fallen einem plötzlich ganz viele Maßnahmen ein, die effektiver wären, dem ein Bisschen entgegenzuwirken, als noch einen »alles Egoisten außer ich und meine reichen Freund*innen«-Kommentar in den Spiegel zu wichsen: Man könnte, zum Beispiel, Menschen Geld geben, damit sie nicht oder weniger arbeiten und entsprechend nicht oder weniger rausgehen müssen4; man könnte mit Verboten bei den Arbeitgebern ansetzen statt bei den Arbeitnehmern —— ich bin, was diesen Punkt angeht, seit März eine kaputte Schalplatte, aber warum zur Hölle ist Präsenzarbeit noch immer erlaubt? Man könnte versuchen, Menschen psychisch zu entlasten, zum Beispiel indem man mehr Kassensitze für Therapeut*innen schafft, oder gesetzliche Kassen verpflichtet, für die Dauer der Pandemie auch Therapien bei Therapeut*innen ohne Kassensitz zu übernehmen; ich bin da kein Experte, aber das scheint mir effektiver, als ein Handout rauszutwittern mit »wertvollen Tips«, wie man auch in Zeiten von Social Distancing psychisch gesund bleiben könnte. Ist das wirklich ein so absurder Gedanke —— dass einer der, vielleicht der Grund ist, warum Menschen sich nicht mehr ganz so solidarisch verhalten wie noch am Anfang der Pandemie, dass wir über die Monate herzlich wenig Solidarität von oben erfahren haben?

Damit verwandt: Wenn Menschen an Sinn und Unsinn einzelner Regeln zweifeln5, dann kann man sie als »Ichlinge« oder gleich als »Corona-Leugner« beschimpfen; man kann aber, davon ausgehend, dass wir wissen, wissen6, dass diese Menschen statistisch wahrscheinlich keine unsolidarischen Arschlöcher sind, auch fragen: Haben wir vielleicht bei der Kommunikation der Regeln und unserer größeren Strategie zur Bekämpfung der Pandemie Fehler gemacht? Oder sogar: Sind die Regeln nicht teilweise widersprüchlich und beliebig, und ist es da nicht verständlich, dass Menschen nicht allem unkritisch Folge leisten? Wenn ich Menschen, wie im ersten Lockdown, sage, dass es einerseits lebensgefährlich, unverantwortlich, egoistisch wäre, sich zu Hause mit einem*r (1) Freund*in zu treffen, es aber gleichzeitig absolut notwendig ist, dass sie ihren Bullshit-Job vor Ort, im Großraumbüro weitermachen, wenn ihr*e Chef*in das entscheidet —— damit sage ich doch etwas, und zwar, dass es eben nicht, oder zumindest nicht nur die Wissenschaft und der Seuchenschutz sind, die entscheiden, wo eingeschränkt wird und wo nicht; ebenso: Wenn ich Menschen dafür verurteile, dass sie auf der Straße Glühwein trinken, und dafür als Argument anbringe, dass wir uns doch nächste Woche ohne Abstand an die Oma kuscheln wollen, sage ich ihnen dann nicht, dass es weniger seuchenschutztechnische Notwendigkeit ist als eine auf einem bürgerlich-konservativen Lebensmodell basierende, objektiv betrachtet aber recht beliebige Einordnung bestimmter Verhaltensweisen und Kulturtechniken als eher »schützenswert« als andere?

Da man das ja ausbuchstabieren muss: Ich verteidige hier ausdrücklich nicht pauschal das Nicht-Einhalten der Regeln, und ich verleugne auch nicht, dass es Menschen gibt, die sich unsolidarisch verhalten, weil sie eben egoistische Arschlöcher sind. Aber diese Menschen sind in der Minderheit, deutlich in der Minderheit, und das sollte Grund sein, sich mit Kritik auf das Regelwerk selbst und die Systeme dahinter zu konzentrieren, anstatt auf die Menschen, die die Regeln befolgen sollen; und wenn Regeln überdurchschnittlich oft missachtet werden, sollte unsere erste Frage sein: Wie können wir Menschen erleichtern, Regeln zu befolgen? Nicht: Wie können wir Menschen dazu zwingen, Regeln zu befolgen? Zwingen müssen wir Betriebe, Organisationen, Systeme; Menschen müssen wir helfen.

Dieser Ansatz ist nicht nur, nun, näher an der objektiven Wahrheit; er ist auch schlicht und einfach produktiver. Was haben Kommentare wie der von Fischer je geleistet, außer uns in unserer Gewissheit zu bestärken, dass wir irgendwie geiler sind als der Rest, moralisch aufrichtiger, schlauer, solidarischer? Das verändert nichts, im Gegenteil, es verhärtet nur die gegenwärtigen Verhältnisse: Es überzeugt uns, dass wir allein sind mit unserem Willen zur Solidarität, lässt uns unsere Suche nach den Ursachen und Schuldigen bei unseren Mitmenschen beginnen und beenden. Nur so können wir eine Rede wie die von Merkel, die —— und das ist überhaupt nicht böswillig, sondern ein faires Urteil angesichts der Politik, die Merkel und ihre Partei die letzten 16 Jahre gemacht haben —— letztlich verlogen und rückgratlos ist, als bewegenden Appell an die Vernunft abnicken. Die Bürger, die allermeisten zumindest, sind längst vernünftig, waren es immer; eine Politik, die über drei freie Schultage debattiert und das Weihnachtsgeschäft und -fest wie selbstverständlich unangetastet lässt, die Sozialleben und Kultur einschränkt, bevor sie die Arbeitswelt antastet, die die weniger privilegierten, die nicht zu Hause arbeiten können oder dürfen, ausblendet, die Verbote gegen Einzelpersonen legitim, gegen Organisationen und Systeme aber unnötig oder unangemessen findet, eine solche Politik ist unvernünftig. Und wer, bitte, wenn nicht Angela Merkel, die mächtigste Person dieses Landes, hat am Ende den Großteil der Verantwortung zu tragen?

Ich verstehe ja die Grundemotion: Man weiß, wie sehr man sich selbst einschränkt, und dann sieht man Menschen, die es (scheinbar) leichtsinnig nicht (immer) tun, und natürlich macht das erstmal wütend. Aber das beste Mittel gegen diese Wut ist sich daran zu erinnern, dass man eben nicht allein ist mit der Einschränkung, dass die allermeisten Menschen für mich gerade genau dasselbe tun wie ich für sie. Das ist kein naiver Glaube von mir, es ist ein Fakt, basierend auf Daten. Und wenn man den drölfsten Kommentar liest, der die mangelnde Solidarität der Menschen beklagt, dafür aber nur anekdotische Belege anführt; und wenn man eine Rede der Bundeskanzlerin hört, deren Inhalt im Wesentlichen ist: Ist schon scheiße grad, aber ich kann da echt nichts für, das seid ihr, ihr selbstsüchtigen Glühweinsäufer, ihr versaut uns guten Christen unser wohlverdientes Weihnachtsfest, dann lohnt es sich, zu fragen, wem das erwiesenermaßen falsche Narrativ der unsolidarischen Masse hilft: Es hilft denen, die nichts wirklich verändern wollen; denen, die selbst im Angesicht dieser Krise auf Jahrzehnte von Politik zurückblicken, die die Gesundheit »der Wirtschaft« über den Ausbau essenzieller Infrastruktur gestellt hat, und die mitverantwortlich ist dafür, dass wir so mittelgut vorbereitet waren auf diese Krise, die also auf diese Politik zurückblicken und denken, »War schon gut so, so machen wir das weiter.« Denen, die sehen, was passieren müsste, und gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung entscheiden, damit doch erstmal abzuwarten, bis das Weihnachtsgeschäft gelaufen und das unantastbare, weil christliche und daher nicht mit, sagen wir, einer »Clan-Hochzeit« vergleichbare Familienfest gefeiert ist.

Es tut mir, um eine Phrase der Kanzlerin zu borgen, von Herzen leid, liebe schlaue linke Bubble, aber: Euer Jammern über Glühweinstände, Partys, Maskenverweigerer, lenkt letztlich nur davon ab, was wirklich schief läuft, und spielt denen in die Hände, in deren Interesse es halt ist, davon abzulenken. Euer Bejubeln der Kanzlerin für ein Basis-Maß an Empathie bei gleichzeitiger Abwesenheit jeder Selbstkritik, euer Teilen der wirklich immergleichen, beleglosen Kommentare über »unseren« Egoismus, kurz: alles, was das Narrativ bedient, das Kernproblem in dieser Pandemie wäre, dass alle außer ihr persönlich sich nicht einfach mal 9 Monate lang am Riemen reißen können —— das ist unsolidarischer, als es jeder auf der Straße getrunkene Glühwein je sein könnte.


  1. Es fehlen ja schon Belege, dass Glühweinstände eindeutig gefährlicher sind als zum Beispiel Parks.↩︎

  2. …das nie irgendetwas anderes geleistet hat als Schuld von den Entscheidungsträger*innen zu weisen.↩︎

  3. …wenn diese Bereiche nicht einfach gleich unagetastet blieben.↩︎

  4. und weniger Stress haben!↩︎

  5. Ich meine hier ausdrücklich nicht Querdenker oder Corona-Leugner, sondern Menschen, die Corona grundsätzlich ernstnehmen, aber das spezifische Regelwerk hinterfragen und eventuell »Schlupflöcher« ausreizen.↩︎

  6. Ich sag das genau so lange bis ihr’s auch in der letzten Reihe verstanden habt.↩︎



Date
December 11, 2020