Gefasst, aber ausweglos: Die uneindeutigen Verluste einer späten Autismus-Diagnose

Vor kurzem bin ich in meiner ersten Improv-Show aufgetreten. Es war die abschließende »class show« meines Grundlagen-Kurses & entsprechend, technisch gesehen, schlecht. Das Publikum bestand ausschließlich aus Freund*innen & Familie, also Menschen, die verpflichtet waren, unseren Dilettantismus auch noch zu feiern. Ich bin, würde ich sagen, so mittel talentiert — gerade gut genug, dass man sich fragen muss, ob ich denke, dass ich super wäre, was, glaube ich, noch unangenehmer anzugucken ist als wenn ich so richtig mit Anlauf scheiße wäre. Ich hatte großen Spaß, & wenn es dem Publikum wider Erwarten auch gefallen hat, ist das ein schöner Bonus, aber wenn nicht, ist mir das auch egal. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so »im Moment« gefühlt habe, so wenig nachgedacht habe. Würde meine alte Therapeutin die letzten Sätze lesen, würde sie das wahrscheinlich als Durchbruch feiern: Ich bin von Natur aus ein overthinker & mein Bedürfnis, von allen gemocht zu werden, ist pathologisch.

(Wieder) mit Improv anzufangen war etwas, das ich mir seit Jahren gewünscht aber mich nicht getraut hatte: Mein erster Anlauf vor 6 Jahren endete, weil eine akute Krise meines Selbstwertgefühls und ein neuer Job im redaktionellen Teil eines deutschen Werbe- & Medienriesen, bei dem niemand jemals arbeiten sollte (vor allem nicht, wenn man eh schon Krisen des Selbstwertgefühls hat) mich zum Aufgeben zwangen. Diesen Wunsch umzusetzen tat mehr für meine geistige Gesundheit als die letzten 6 Jahre Therapiearbeit. Nicht zufällig passiert es zeitgleich damit, dass ich endlich die Sorte kreativer Projekte angehe, die ich seit Jahren im Kopf habe, aber aus Träg- & Feigheit nicht angegangen bin.

Warum, also, macht mich all das traurig? Nicht währenddessen, nicht nur, und nicht depressiv, sondern wirklich traurig, wie wenn man um etwas trauert halt?


In seinem berührenden Essay-Band Allein konfrontiert Daniel Schreiber seine Lebenssituation als schwuler, im mittleren Alter noch immer alleinstehender Mann, und fragt sich ob ein solches Leben ein erfülltes sein kann. Gibt es ein valides, gleichwertiges Lebensmodell jenseits der Paarbeziehungen, die die meisten seiner Freunde eingehen?

Ein Konzept, das Schreiber heranzieht, um die diffuse Traurigkeit zu verstehen, die er angesichts der Einsicht empfindet, dass das Modell der Paarbeziehung, des »Sich-Niederlassens« vielleicht nie seine Lebensrealität sein wird, ist die Idee von »ambiguous losses«, uneindeutigen Verlusten, entwickelt von der Psychotherapeutin Pauline Boss:

Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein »sowohl als auch« aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen, weiterzumachen und neu anzufangen — all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. Pauline Boss zufolge geht mit uneindeutigen Verlusten eine eigene Form der Traumatisierung einher.

Als Beispiele für uneindeutige Verluste nennt Boss etwa Angehörige, die an Demenz leiden, also physisch anwesend, aber nicht mehr ganz sie selbst seien, aber auch, sicher in anderer Intensität, Ghosting; in ihrem neusten Buch zum Thema, The Myth of Closure: Ambiguous Loss in a Time of Pandemic and Change, bezieht Boss das Konzept außerdem auf die Pandemie: auf das Leben, das wir in dieser Zeit nicht so leben konnten, wie wir es wollten, die Erfahrungen, die wir nicht gemacht haben.

Schreiber wendet das Konzept noch etwas ganzheitlicher an:

In mancher Hinsicht lässt sich, wenn man allein lebt, das ganze Leben als ein »uneindeutiger Verlust« im Sinne von Pauline Boss beschreiben. Man trauert um einen Partner, den man nicht mehr oder noch nicht hat. Man schwankt zwischen Zuversicht, Traurigkeit und Verdrängung und versucht sich als Notlösung von der Idee der Zweisamkeit zu verabschieden. Man legt sein Leben immer mal wieder auf Eis, weil man nicht mehr weiterweiß, weil man den nächsten Schritt nicht gehen möchte, der das Alleinsein weiter zementieren würde.


Vor etwa 4 Jahren, mit 28, erhielt ich, nach einem langen Recherche- & Diagnoseprozess, meine offizielle Autismus-Diagnose. In erster Linie war das erfreulich: Es war ein bis dahin fehlendes, entscheidendes Puzzleteil1 meiner Identität. Es nahm eine Menge Druck von mir, eine Menge Schuld: Mein Leben muss nicht so verlaufen, wie die »Norm« diktiert, wenn die Art, wie ich denke, fühle & mit der Welt interagiere so entscheidend von der »Norm«, vom Neurotypischen abweicht. In den knapp 4 Jahren seitdem habe ich mit der autistischen Community auf Twitter interagiert, Erfahrungen & Theorie anderer autistischer Menschen gelesen, und so ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt, das ich so noch nicht kannte, auch eine Art von Selbstwertgefühl. Manches, Improv darunter, was ich seitdem ausprobiert oder wieder aufgenommen habe, hätte ich mich vorher wohl nicht getraut, oder, aufgrund dieser verinnerlichten Idee, was »normal« ist, gedacht, dass es dafür »zu spät« wäre.

Aber dann ist da halt auch noch eine diffuse Traurigkeit, eine Wut auch, die ich seit meiner Diagnose fühle.


Die Theorie von Neurodivergenz, die Art, wie autistische Menschen selbst ihre Identität begreifen, steht in der Tradition der Queertheorie. Man kann sich mit einiger Berechtigung fragen, ob »queer« sein & »neurodivergent« sein wirklich zwei unterschiedliche Phänomene sind, oder ob eher etwa eines eine Unterkategorie des anderen ist. Als heterosexueller cis Mann bin ich sicher niemand, dessen Stimme in dieser Frage besonderes Gehör verdient, aber alles, was Solidarität zwischen marginalisierten Gruppen fördern könnte, finde ich erstmal gut, und es ist mir schon oft aufgefallen, wie sehr ich mich — emotional, wenn nicht in den konkreten Erfahrungen — in Schilderungen queerer Menschen wiederfinde.2 Queere & neurodivergente Menschen sehen sich teils mit sehr ähnlichen Mustern der Diskriminierung konfrontiert: Beide Gruppen kämpfen gegen die Pathologisierung von etwas, das sie als essenziellen & positiven Teil ihrer Identität sehen.3

Entsprechend ist es wohl kein Wunder, dass ich mich auch mit Teilen von Schreibers Essay identifizieren konnte. So schreibt Schreiber:

Lange hatte ich keinen Mangel an Fantasien über Intimität und Liebe verspürt, sondern eher das Gegenteil, einen Überschuss. Doch die Anhäufung jener uneindeutigen Verluste, jener Lebenskonzepte, von denen ich mich verabschieden musste, schien dafür zu sorgen, dass mir die Kraft ausging, diese so notwendigen Fantasien aufrechtzuerhalten. Anstatt weiter mit ihnen zu leben, ließ ich lieber von ihnen ab.

Das naheliegende »Hoffnungslosigkeit« sei allerdings nicht das richtige Wort für dieses Gefühl:

Irgendwie fühlte es sich gefasster und zugleich auswegloser an. In seinem Buch Wie zusammen leben führt Roland Barthes in diesem Zusammenhang den Begriff der Akedia ein, einen Begriff, der ein größeres Echo in mir fand. Mit der ursprünglich aus dem frühen Christentum stammenden Idee meint Barthes eine »Beklommenheit«, eine »Bitterkeit«, eine »Trockenheit des Herzens«. Akedia beschreibt für ihn nicht den Verlust des Glaubens an die Liebe, sondern den Verlust des Interesses daran.

Unter queeren Menschen, glaubt Schreiber, sei dieses Gefühl besonders verbreitet:

Für viele von uns scheint eingetreten zu sein, wovor wir als Jugendliche, häufig sogar in bester Absicht, gewarnt worden waren: dass unsere Andersartigkeit für ein Leben sorgen würde, das wir allein, ohne Liebe, verbringen werden.

Ich glaube, auch viele autistische Menschen kennen eine Version dieses Gefühls, vor allem diejenigen von uns, die erst spät im Leben ihre autistische Identität entdeckt haben. Nicht unbedingt, oder nicht nur, in Bezug auf romantische Beziehungen, sondern auf all die Marker — beruflicher Erfolg, sozialer Status etc. — die, in der verbreiteten Erzählung, ein »normales«, erfülltes Leben anzeigen. Auch für viele von uns scheinen ein Stück weit die »Strafen« für unser Anderssein eingetreten zu sein, die man uns angedroht hat.

»Gefasst, aber ausweglos« trifft jedenfalls ziemlich genau, wie ich empfinde angesichts der Beobachtung, dass mein Leben bislang nicht so verlaufen ist, ich nicht da bin, wo ich nach der neurotypischen Erzählung sein »sollte«: Meine Diagnose bedeutet für mich, dass die Dinge, in denen ich von der »Norm« abweiche, nicht »falsch« sind, nicht pathologisch, krankhaft, dass ich sie nicht ändern muss; aber auch, dass ich diese Dinge nicht ändern kann, weil sie ein fundamentaler Teil meiner Neurologie sind, und dass deshalb, in einer Welt, die Anderssein bestraft, vieles, was ich mir wünsche, unerreichbar für mich bleiben könnte. Das späte Finden meiner Identität wird begleitet von dem Bewusstwerden einiger uneindeutiger Verluste — das Leben, was nicht sein kann, & das, was vielleicht hätte sein können, wäre ich nicht 28 Jahre meines Lebens im Unklaren gewesen: Hätten etwa die Freund*innen, die mich immer auf eine gewisse Distanz hielten, mich anscheinend nur in kleinen Dosen ertragen haben, mehr Verständnis gehabt, hätten sie gewusst, dass ich autistisch bin? Umgekehrt, hätte ich nicht fast 3 Dekaden lang gelernt, zu »maskieren«, neurotypisches Verhalten zu imitieren, würden die Menschen, die jetzt in meinem Leben sind, mich überhaupt mögen? Mit »Masking« kann man nicht einfach aufhören, wenn man über Jahrzehnte verinnerlicht hat, dass es nötig ist, um in einer neurotypisch dominierten Welt einigermaßen akzeptiert zu werden. Eine Version von mir, die nicht immer ein Bisschen auch eine Performance ist, werde ich nie kennenlernen. Wäre diese Version freier, selbstbewusster? Hätte ich früher mit den Dingen angefangen, die ich immer tun wollte? Wäre ich weiter in meiner persönlichen Entwicklung, meiner kreativen Verwirklichung? Wäre ich erfolgreicher, liebenswerter, glücklicher?


Der Schlüssel zu einem gesunden Umgang mit uneindeutigen Verlusten ist laut Boss, sich von dem Gedanken zu verabschieden, man könne »darüber hinwegkommen«. Stattdessen müsse man lernen, mit der Ungewissheit zu leben, Ambiguität auszuhalten, »sowohl als auch« zu denken; die Trauer über den Verlust mit sich zu tragen, und sich trotzdem vorwärts zu bewegen. Das ist, nun, leichter gesagt als getan.

Denke ich an die uneindeutigen Verluste des Lebens, das ich hätte haben können, und versuche ich mir dann vorzustellen, wie mein weiteres Leben aussehen könnte, gelange ich schnell an eine Blockade: Wie Schreiber es in Allein beschreibt, scheinen mir selbst Fantasien von einem anderen Leben nicht mehr zugänglich. Die Freude & Erleichterung darüber, endlich diesen zentralen Teil meiner Identität zu kennen, wird begleitet von Traurigkeit & Wut darüber, dass es solange gedauert hat, und dass ich für mein Anderssein so oft bestraft wurde. Gefasst, aber ausweglos: Von Moment zu Moment fühle ich mich so gefestigt wie nie, aber jeder Gedanke über den Moment hinaus, zurück an das, was (nicht) war oder nach vorn an das, was (nicht) sein kann, gibt mir das Gefühl, festzustecken. Ich kann nur versuchen, so gut es geht, so sehr das meiner Natur widerspricht, im Moment zu bleiben, nicht zu planen & nicht zurückzuschauen; zu improvisieren.


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  1. Diese Metapher bitte nicht als geistige Nähe meinerseits zu Autism Speaks oder den problematischeren Aspekten der Bedeutung des Puzzles als Symbol für Autismus interpretieren.↩︎

  2. Natürlich gibt es auch Unterschiede in den Erfahrungen — nur, weil ich autistisch bin, heißt das nicht, dass ich verstehe, was es bedeutet, queer zu sein.↩︎

  3. Es ist kein Zufall, dass etwa J.K. Rowlings berüchtigter Essay, in dem sie sich als Transfeindin bekannte, auch eine Passage enthielt, die autistischen Menschen die Deutungshoheit über die eigene Identität absprach.↩︎



Date
April 28, 2022