Dead to Me zeigt Trauer als nicht enden wollenden Thrill-Ride

Netflix’ Dead to Me zwingt mich, die Grundsätze meiner Arbeit als Kritiker zu hinterfragen.

Weit verbreitet ist die Meinung, Kritiker hätten an allem was auszusetzen, würden jedes Werk in der Intention schauen, es auseinanderzunehmen, um nicht nur sich, sondern auch anderen den Spaß zu verderben; wenn man aber nicht gerade Bezahlung am Rande des Existenzminimums, fehlende Job-Sicherheit und die tägliche Konfrontation mit offenem Hass und Gewaltdrohungen als perks eines Jobs ansieht, bleiben wenig Gründe, diesen Beruf auszuführen außer ein grundsätzlicher Enthusiasmus für die Kunstform, mit der man sich beschäftigt. Deshalb, und wegen, keine Ahnung, Berufsethik und so Zeug, nimmt man als Kritiker tendenziell eher die Haltung ein, aktiv zu versuchen, ein Werk zu mögen und zu verstehen: Wenn ein Film, eine Serie oder was auch immer nicht die Sorte Film, Serie oder was auch immer ist, die ich am liebsten sehe, versuche ich, den Wert in dieser Art von Film, Serie oder was auch immer zu sehen; und wenn ein Werk anders ist, als erwartet, versuche ich, nicht enttäuscht zu sein, sondern mitzugehen, dahin, wo das Werk hinwill. Das hat nichts mit einem zum Scheitern verurteilten Versuch zu tun, »objektiv« zu sein, sondern damit, ein Werk als das zu sehen, was es ist, nicht das, was ich möchte, das es ist.

Eng verwandt damit: »Was der Autor sich dabei gedacht hat« ist nicht unbedingt irrelevant, aber es ist nur eine Interpretation von vielen, und Kritik ist nicht in erster Linie ein Versuch, anhand des Werkes ein psychologisches Profil des Autors zu erstellen. Auch hat es in Zeiten von Produzentenkino wie dem MCU zwar neue Relevanz, sich zu fragen, unter welchen Bedingungen der (theoretische) Autor eines Films eigentlich arbeiten musste, inwiefern das, was am Ende herauskam, irgendeiner »Vision« entspricht und wenn ja, wessen; aber in der Regel ist es produktiver, erstmal davon auszugehen, dass das, was man hier vor sich hat, genau das Werk ist, dass der Autor machen wollte — wie gesagt: sehen, was ist, nicht, was man sich wünscht.

Und dann ist da sowas wie Dead to Me. Ich hatte mich — für die kurze Zeit im Vorfeld, in der ich wusste, das die Show existiert, Netflix ist ja seltsam selektiv in der Promotion seiner Eigenproduktionen — ziemlich darauf gefreut, und das, was ich letztlich gesehen habe, entspricht nicht meinen Erwartungen; aber das ist nicht der Grund, oder nicht der einzige, warum ich versucht bin, diese Grundsätze ein Bisschen beiseite zu schieben: zu spekulieren, wie genau die Entwicklung dieser Show ablief, und mich ein Bisschen zu weigern, die Show als das anzunehmen, was sie ist; schwerer als persönliche Enttäuschung wiegt der Eindruck, dass diese Show seltsam in Konflikt mit sich selbst steht, und dass das, was mich so irritiert, weniger ein bewusster Versuch ist, Erwartungshaltungen zu unterwandern, weniger Ausdruck einer eigenwilligen Vision, als Ausdruck eines Trends im seriellen Erzählen, den ich befremdlich finde. Mehr und mehr, scheint es mir, verlernt das Fernsehen, andere Arten von Geschichten zu erzählen als diese.

Christina Applegate spielt Jen, deren Mann in einem hit & run-Unfall ums Leben kam. In einer Therapiegruppe lernt sie Judy (Linda Cardellini) kennen, die offenbar ebenfalls um ihren Mann trauert. Trotz ihrer Unterschiede — Jen ist zynisch, wütend, no-nonsense, Judy (angeblich) freigeistig, optimistisch, offenherzig — knüpfen die beiden eine Freundschaft, und bald zieht Judy sogar in Jens Gästezimmer.

So simpel scheint zunächst die Prämisse; und dann beginnen die Twists: Judys Mann Steve (James Marsden) lebt! Judy »trauert« in Wahrheit um die nach einer Reihe von Fehlgeburten zu Bruch gegangene Beziehung! Jen wird Steves neue Maklerin! Und, natürlich, der ganz große Twist: Judy fuhr das Auto, dass Jens Mann erfasste (& Steve saß neben ihr)!

Wann immer Dead to Me innehält, sich auf die Charaktere, ihre Gefühle und Beziehungen besinnt, funktioniert die Serie: Jen und Judy, nachts am Pool sitzend — Judy hilft Jen, ihre Trauer zu akzeptieren, ihre Gefühle zuzulassen, anstatt sie in Wut zu kanalisieren; Jen hilft Judy, von Steve loszukommen, nach dem sie, wie Jen es immer wieder formuliert, »süchtig« ist, trotz — wegen — seiner manipulativen Tendenzen. Der Kontrast zwischen den beiden Frauen ist zwar mehr behauptet als wirklich spürbar — Judys »Freigeistigkeit« beschränkt sich mehr oder weniger darauf, dass sie beruflich was mit Kunst zu tun hat und nicht aktiv jede Idee, die nicht von ihr kommt, niedermacht; dafür zeichnet die Serie eine glaubhafte Freundschaft: Jen und Judy mögen einander tatsächlich spürbar, und wie selten solche Beziehungen geworden sind, darüber hab ich ja schonmal geschrieben.

Aber Dead to Me will halt auch ein twisty Thriller sein, und das funktioniert weniger: Streckenweise wirkt die Show wie einer dieser YouTube-Fan-Trailer, die mit ein Bisschen Spannungsmusik, dramatischen Abblenden und Soundeffekten aus einer Komödie einen Horrorfilm machen. Zum Teil liegt das daran, dass diese Geschichte einfach nicht so juicy ist, wie die Serie zu glauben scheint: Tonal scheint die Serie in ihren Thriller-Momenten Wine-Mom-Crime wie Big Little Lies oder den kriminell übergangenen A Simple Favor channeln zu wollen, doch es fehlt den Charakteren an edge, an moralischer Ambivalenz; und gemessen daran, wie plotty Dead to Me sein will, wie darauf aus die Serie ist, in jeder Folge eine neue Offenbarung oder Komplikation für die Beziehung der Figuren einzufügen, fehlt es der Geschichte einfach an, nun, Plot. Zweifelsohne ist die Offenbarung, dass Judy für Steves Tod (mit-)verantwortlich ist, erstmal ein Schock, und ein massives Hindernis für die Freundschaft der beiden; aber es ist nicht die Sorte Information, die mich als Zuschauer anders über eine Figur denken lässt, sodass eine Spannung entstünde zwischen der Version von Judy, die Jen sieht, und der die ich sehe, und soviel Mühe die Serie sich gibt, die Beziehung und den Plot weiter zu verkomplizieren, ist das hier ihre einzige echte Trumpfkarte, die sie für das, was sie vorhat, viel zu früh ausspielt. Wir erfahren es in einer der frühen Episoden, und nie besteht irgendein Zweifel daran, dass der Unfall für Judy genauso tragisch und belastend ist wie für Jen, und dass ihre Gefühle zu Jen echt sind, die Freundschaft kein Versuch, die Witwe ihres »Opfers« zu manipulieren. Doch es dauert bis zur letzten Episode, bis Jen endlich die Wahrheit erfährt; davor stehen Wendungen wie Judys Beziehung zu einem Polizisten, der Jen hilft, nach dem Fahrer des Autos zu suchen, und halbherzige Vertuschungsversuche wie ein ernsthaft mit einem dramatischen Musik-Stinger als »Twist« verkaufter Shot, in dem Judy auf einer Liste mit möglichen Besitzern des Autos ihren Namen überspringt, als wäre das der Plan eines kriminellen Masterminds und nicht der verzweifelte Versuch einer einsamen Frau, ihre beste Freundin nicht zu verlieren; es gibt zwei (2) Szenen, in denen Judy Jen oder einer Polizistin »etwas sagen« muss, und die Kamera zoomt ein Bisschen rein und Cardellini hält einen Moment inne, und anstatt ihre Fahrerflucht offenbart sie irgendwas anderes egales. Die Serie scheint unter dem Eindruck zu operieren, das hier wäre ein Katz-und-Maus-Spiel, es wäre spannend für den Zuschauer, sich zu fragen, wer am Ende »gewinnt« — kommt Judy mit ihrer Lüge davon? Erfährt Jen die Wahrheit, bevor…ja, keine Ahnung, irgendwas passiert? Und vielleicht funktioniert das für andere, aber für mich schien es eher wie Wassertreten, das unnötige Herauszögern des Teils der Geschichte, der wirklich interessant wäre: Das hier ist die Sorte Plot-Information, die interessanter ist, nicht, solange sie unausgesprochen im Raum steht, sondern wenn sie konfrontiert wird; es ist kein delikates Geheimnis, sondern ein tragischer, beschissener Zufall, der vor allem emotional kompliziert ist. Wirklich interessant wäre die Frage, ob und wie Jen und Judy es schaffen, ihre Freundschaft zu reparieren, wenn das Geheimnis einmal ausgesprochen ist. Es ist Material für ein charakterfokussiertes, plot-leichtes Drama, nicht für einen Thriller.

Was mich zu einer grundsätzlichen Frage bringt, der, die mich zu der Sorte Spekulation verleitet, die ich als Kritiker eigentlich vermeiden will: Warum ist Dead to Me ein Thriller?

Ich weiß, dass das eine einigermaßen seltsame Frage ist: Es ist ja nicht so, als ob Geschichtenerzähler zuerst ihr Material ausarbeiten und dann entscheiden würden, welches Genre sie ihm überziehen sollen. Aber im Laufe der Entwicklung einer Serie werden viele Stimmen laut, mit unterschiedlichen Interessen und Intentionen, und ich werde das Gefühl nicht los, dass man diese unterschiedlichen Stimmen hier in der fertigen Serie hört.

Vielleicht ist Dead to Me genau die Serie, die Erfinderin Liz Feldman machen wollte. Eigentlich habe ich keinen Grund zu glauben, dass sie die Show nicht als genau diesen seltsamen Drama/Sitcom/Thriller-Hybrid konzipiert und gepitcht hat. Aber angesichts der massiven Unterschiede in der Qualität, vor allem der Spezifität der unterschiedlichen Genreelemente fällt es schwer, sich solche Spekulationen ganz zu verkneifen. Alle Persönlichkeit, die die Serie hat, liegt in diesen Szenen, in denen der Plot kurz stillsteht: Sie liegt in den gut geschriebenen Dialogen, im Humor; sie liegt in den Performances von Applegate und Cardellini, die in diesen Szenen ihre Stärken ausspielen, in ihrer Chemie miteinander.1

Schaltet die Serie aber in den »Thriller-Mode«, wirkt sie seltsam generisch: Der Thriller-Plot läuft seltsam automatisch ab, unmotiviert — was, genauer betrachtet, gar nicht so überraschend ist, denn Judy ist eben nur halb-motiviert, die Wahrheit zu vertuschen und handelt den Großteil der Zeit ebenso automatisch. Man schaut also dieser Frau zu, die in einer ausweglosen Situation ist und das Unvermeidliche ein Bisschen hinauszögert, einfach, weil sie nicht weiß, was sie sonst machen soll, und klar, irgendwo kann man das nachvollziehen, aber auf acht Folgen gestreckt hat man irgendwann halt das Gefühl, als würde die Serie einen Thriller-Plot durchexerzieren, weil sie selbst nicht weiß, was sie dem Zuschauer sonst zu bieten hat.

Aber das ist ein Irrtum, und einer, der im Fernsehen, in Zeiten »horizontalen Erzählens«, immer verbreiteter scheint: Es gibt mehr Möglichkeiten, den Zuschauer interessiert zu halten, als ständig neue Wendungen, Twists und Plot-Points, das permanente Verändern des Status Quo; die Frage, wie es weiter geht, ist nicht die einzige Motivation, die nächste Folge anzuschauen. Und dieses Gefühl, »gespannt zu sein«, das hat die Tendenz, alle anderen Gefühle, die eine Geschichte auslösen könnte, zu überdecken.

Ich bin bei weitem kein Genre-Purist, und bin grundsätzlich auch der Meinung, dass der Zuschauer durchaus in der Lage ist, mehrere Gefühle gleichzeitig zu fühlen; aber man darf auch nicht vergessen, dass es Gründe hat, dass Geschichten über bestimmte Themen oft ähnlichen Mustern folgen und in ähnlichem Ton erzählt werden, Gründe, die über »Ideenlosigkeit« oder dem sklavischen Folgen etablierter Formeln seitens der Macher hinausgehen — Form und Funktion sind eben nicht streng getrennt voneinander: Dass Geschichten über Trauer oft eher charakter- als plotfokussiert sind, das Erzähltempo eher gemächlich, liegt daran, dass so eben Trauer funktioniert. Ich habe das Glück, bislang in meinem Leben von größerer Trauer verschont worden zu sein, aber nach allem, was ich davon weiß, ist einen geliebten Menschen zu verlieren eher kein nicht enden wollender Thrillride: Der Status Quo ändert sich nicht täglich — eher gibt es diese eine, massive Veränderung, und dann eine lange Phase, in der man gerne etwas ändern würde, aber es eben nicht kann, und sich langsam damit arrangiert, dass diese eine, große Veränderung permanent und unwiderruflich ist. Aber mit permanent hat es Dead to Me wirklich nicht: Ständig verändert sich etwas — Jens Gefühle für ihren verstorbenen Mann, ihre Beziehung zu Judy, die Informationslage zu seinem Tod —, so dass Jen und der Zuschauer gar keine Zeit haben, sich mit irgendeinem Status Quo zu arrangieren, irgendein Gefühl ausführlich zu konfrontieren; als hätte die Serie Angst, dass zu tiefe Gefühle uns nervös machen, also schaut sie peinlich berührt weg, bevor wir es tun. Selbst, wenn am Ende endlich alles ausgesprochen ist zwischen Jen und Judy, erzählt die Serie das als ein Thriller-Finale, in dem es weniger darum geht, wie die Figuren sich fühlen, als darum, wie die Sache ausgeht: Judys Suizidversuch auf der Straße, wo sie Jens Mann überfahren hat, wird gegengeschnitten mit einer Konfrontation von Jen und Steve, als wäre das dasselbe, als wäre die angemessene Reaktion auf Judys Verzweiflung ebenfalls Herzklopfen und Spannung und Adrenalin, anstatt, you know, Mitgefühl.

»Dead to Me feels like content made into the shape of a TV show.«, schreibt Kathryn VanArendonk bei Vulture, und das geht so in die Richtung von dem, was ich meine, wenn ich spekuliere, wie genau diese Serie zu dem wurde was sie ist — passender noch fände ich vielleicht umgekehrt: Dead to Me feels like a TV show made into the shape of content. Es fühlt sich an wie eine »klassische« Dramedy-Serie, nachträglich ungelenk in das Bingeability-Modell von Netflix’ Content-Delivery-Maschine gezwängt.

Ich weiß nicht, ob das wirklich ist, was passiert ist — wie gesagt, gut möglich, dass die Serie von ihrer Erfinderin genau so konzipiert und gepitcht wurde. Aber was auch immer die Genese von Dead to Me, das Ergebnis ist eine Show, die unseren Blick auf ihre glaubhafte, lebendige, spezifische zentrale Beziehung immer wieder vernebelt mit austauschbaren, halbherzig-erzählten Thriller-Hijinks; eine Geschichte (theoretisch) über eines der tiefsten, schmerzhaftesten Gefühle, die Menschen fühlen können, die beim Zuschauer in erster Linie dasselbe Gefühl hervorruft, was derzeit so viele highly serialized Streaming-Shows hervorrufen: diffuse Neugier, wie es weitergeht, und dieses ständige, angespannte Warten auf eine angeteaste Konfrontation.


  1. Die beiden aufeinandertreffen zu lassen, ist cleveres Casting: Trotz verlässlich soliden Performances in oft undankbaren Rollen haben beide einen Hauch von has-been, mit ikonischen Rollen, die schon lange zurück liegen. Aber bei einem bestimmten, comedyaffinen Publikum haben beide eine Menge Goodwill — beide zusammen in den Hauptrollen einer Serie zu sehen, das fühlt sich einfach richtig an, man gönnt ihnen diese Rollen und man gönnt ihren Figuren diese Freundschaft, die auch in-universe einen gewissen us against the world-Unterton hat.↩︎



Date
May 5, 2019