Merz' Verhalten seit der Wahl ist nicht impulsiv, sondern wohlkalkuliert

Hanlon’s Razor besagt ja: „Never attribute to malice that which is adequately explained by stupidity.“ Einer Variante dieses Grundsatzes scheint Sebastian Huld bei seiner Analyse bei n-tv von Friedrich Merz’ Verhalten seit der Bundestagswahl zu folgen. Er schreibt:

Merz gefährdet - wie schon bei seiner Abstimmung mit der AfD - den Erfolg seiner Kanzlerschaft, noch bevor er das Amt angetreten hat. Der CDU-Chef und seine Jungsbande trumpfen dieser Tage auf, als hätten CDU und CSU am Sonntag 40 Prozent der Stimmen eingefahren.

Dieses Verhalten erklärt er mit „[e]rschreckenden[n] Defizite[n] bei Empathie und Taktik“ seitens Merz. Mit seinen Beleidigungen gegen die Demonstranten gegen Rechts nach seiner gemeinsamen Abstimmung mit der AfD sowie der absurden kleinen Anfrage, in der Merz und die Unionsfraktion die staatliche Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen infrage stellen, gebe Merz einem „Impuls“ nach.

Dass Merz Defizite in Sachen Empathie hat, daran besteht kein Zweifel. In Sachen Taktik allerdings sollten wir zumindest in Erwägung ziehen, dass Merz hier überhaupt nicht impulsiv handelt, sondern wohlkalkuliert, und dass seine Taktik genau so aufgeht, wie ihm vorschwebt.

„Es hätte unmittelbar nach der Wahl vertrauensbildende Maßnahmen in Richtung SPD gebraucht“, schreibt Huld, und das stimmt – nur nicht aus der Perspektive von Friedrich Merz. Denn Merz will insgeheim ja gar nicht mit der SPD regieren – er würde am liebsten allein regieren, und am zweitliebsten mit der AfD. Letzteres schließt er offiziell nur deshalb aus, weil er weiß, dass es starken Gegenwind, auch aus seiner eigenen Partei, geben würde – noch. Aber was, wenn die Union plötzlich (die folgenden Anführungszeichen bitte maximal sarkastisch lesen) „gezwungen“ wäre mit der AfD zu koalieren, weil sich kein anderer Partner findet? Vielleicht wäre das leichter zu verkaufen…

Merz’ Agieren macht aus seiner Sicht taktisch absolut Sinn, denn aus dieser Perspektive ist er in einer Win-Win-Situation. Mit seinem breitbeinigen Mackertum und offenem Kulturkampf signalisiert er der SPD: Wenn ihr mit mir regiert, dann so – als eine, wie Huld es formuliert, „dem künftigen Kanzler ausgelieferte CDU-Untergliederung“. Und wenn die SPD das nicht mitmacht, ja, wo wäre denn das Problem? Dann bleibt Friedrich Merz ja gar nichts anderes, als mit der AfD zu koalieren oder sich wenigstens von ihr wählen zu lassen.

Dürfte ich der SPD Ratschläge geben, würde ich ja sagen: Call his bluff. Für Friedrich Merz’ Koalitionsentscheidungen ist niemand verantwortlich außer Friedrich Merz und der Rest der Union, der sie mitträgt. Würde ich aber wetten, dann darauf, dass Deutschlands zweitrückgratloseste Partei nach den Grünen Merz am Ende so ziemlich alles geben wird, was er will, und das als heldenhaftes Opfer verkaufen wird, das uns vor einer AfD-Regierung bewahrt. Dass Merz dann, mit voller Unterstützung der SPD, weitestgehend dieselbe Politik machen wird, die wir auch mit der AfD bekommen hätten, soll dann wohl irgendwie das „kleinere Übel“ sein.

Das ist eine der großen Lektionen, die ich aus der ersten Trump-Amtszeit mitgenommen habe: dass Hanlon’s Razor, zumindest, wenn es um Politik geht, meistens Unsinn ist. Öfter als nicht ist selbst scheinbar „impulsives“ oder irrationales Handeln Ergebnis taktischen Kalküls. Merz weiß sehr genau, was er hier tut, und die Konsequenz – dass seine Union, wenn nicht jetzt dann spätestens zur nächsten Wahl, so inkompatibel mit allen anderen Parteien wird, dass es wirklich nur noch mit der AfD geht – nimmt er nicht nur in Kauf, er begrüßt sie.

Neben dem offensichtlichen – Merz sieht den Kampf gegen Rechtsextremismus als Kampf gegen ihn selbst, go figure – lebt Merz mit dieser kleinen Anfrage auch seine persönliche DOGE-Fantasie aus. Merz hat ja in diesem Wahlkampf noch mehr als früher Trump nachgeeifert, teils 1:1 seine Rhetorik übernommen („Tag eins!“, „Richtlinienkompetenz“ blabla), jetzt will er auch noch der deutsche Elon Musk sein und erstmal demonstrativ überall kürzen, wo „der Staat“ „zu viel“ Geld für „sinnloses“ ausgibt. Der absolute Overkill von dem ganzen (551 Fragen, die teilweise auch einfach dasselbe anders formuliert fragen) ist insofern auch Methode, Leute, die keinen Bock haben, sich sowas durchzulesen, sollen halt den vagen Eindruck bekommen, dass staatliche Förderung völlig aus dem Ruder gelaufen wäre und es da mindestens 551 offene Baustellen gäbe, wo jetzt endlich mal wer anpackt.

[T]hese ads are trying to sell LLMs as a tool for sending routine business communications. They are trying to make it look natural to fuss over each email so neurotically that you gotta plug it into Grammarly before sending it. They soft-pedal whatever anxiety would drive someone to use an LLM to generate a routine business communication, then make the AI tool look like like a source of relief.

These ads are all embracing and even encouraging a kind of anxiety - like, anxiety-disorder level anxiety - that I find extremely dark and distressing.

Game-Designerin Laura Michet schreibt sehr treffend über das Marketing von LLM-Grammatik-Tool Grammarly. Die Macher sogenannter „AI“-Tools wissen sehr genau, dass ihre Produkte nicht wirklich irgendein echtes Problem lösen, und müssen uns daher erstmal ausgedachte Probleme einreden, die kein Mensch jemals hatte oder haben würde. Sie versuchen aktiv, uns abzutrainieren, wie normale Menschen miteinander zu kommunizieren.

Erinnert mich an diesen Post von tumblr-User*in lesbinewren:

we need to make using chatgpt embarrassing bc sorry it really is. what do you mean you can’t write an email

Vergleiche auch diesen sehr unterhaltsamen Text von Alan Kluegel bei Defector über einen bizarren Werbespot mit Matthew McConaughey für irgendeinen AI-Ramsch von Salesforce:

It is simply wild that Salesforce has this opportunity to highlight to a mass audience, even indirectly, their best and most promising use-case for AI, and here they are aggressively pitching an inscrutable solution to a non-existent problem. Often, what ruins advertisements aimed at the highest socioeconomic strata is a lack of relatability. (Is your banged-up old car elevator ruining your enjoyment of your Maui beach house?) In a mind-bending twist, that is not the problem here. The basics of this premise—a restaurant, a table, food, even a booking app—are extremely relatable to almost everyone; what makes this commercial an avant-garde experience is that at no point are the people on-screen relating to these perfectly ordinary things in a way that any human ever has.

📺 Andy Sambergs seltsamer Beitrag zum 50. Jubiläum von Saturday Night Live

SNL wird dieses Jahr 50 Jahre alt, und zu diesem Anlass gab es, neben diversen Dokus und einem Konzert-Special, natürlich auch eine Jubiläums-Show mit Auftritten und Beiträgen von Cast-Mitgliedern aus der gesamten Geschichte der Show. Trotz meiner Kritik am System SNL, und obwohl ich die Show seit Jahren nicht mehr gucke und die einzelnen Sketche, die ich sehe, nur selten lustig finde, kann ich nicht leugnen, dass mich solche Rückblicke immer ein Bisschen kriegen. Wie viele Comedy-Fans hatte ich eine Periode im Leben, in der ich die Show religiös geguckt habe, und verbinde dementsprechend doch einiges mit so manchem Sketch und Star der Show. Schon beim Special zu 40. Jubiläum vor 10 Jahren war ich seltsam berührt von Andy Sambergs und Adam Sandlers Digital Short, in dem sie die Momente besangen, in denen Cast-Mitglieder während der Live-Show nicht mehr an sich halten konnten und in Gelächter ausbrachen.

Diesmal performte Sandler live einen Song, in dem er die Show, ihre Geschichte und Stars besingt. Wie von Sandler gewohnt ist das schamlos sentimental und handwerklich so mittel — es gibt bestenfalls die vage Idee eines Versmaß’ —, aber die Emotionen sind offensichtlich ehrlich, und wen die Erwähnung des unvergessenen Phil Hartman und von Sandlers Freund Chris Farley, und die Reaktion des Publikums darauf, kalt lässt, der hat Comedy nie geliebt.

Samberg derweil steuerte einen neuen Digital Short bei, und der ist…seltsam. Gemeinsam mit Bowen Yang, einem der charismatischeren Mitglieder des aktuellen Casts, besingt Samberg eine angebliche Gemeinsamkeit aller, die je für SNL gearbeitet haben: „Everyone that ever worked at SNL had anxiety.“

Lustig ist der Short durchaus — wie so oft rettet Samberg die an sich mittelmäßig kreative Prämisse mit einem seiner typischen non-sequiturs, hier über die Sanitäranlagen im SNL-Studio („If these pipes could talk…“).

Aber ich kann nicht anders, als mir auszumalen, wie wir in einigen Jahren über einen solchen Short denken werden. Irgendwann – wohl erst nach seinem Tod, aber es ist nur eine Frage der Zeit – wird eine Aufarbeitung der Lorne-Michaels-Jahre stattfinden, von dem toxischen Arbeitsumfeld das er systematisch kreiert. Wie werden sich dann Textzeilen anhören, in denen Samberg besingt, was für ein „challenging place“ SNL ist, wie es sich anfühlt, „notes from Lorne“ zu erhalten?

Man sollte ein Comedy-Bit nicht zu ernst nehmen, Selbstironie ist eines der wichtigsten komödiantischen Stilmittel — geschenkt. Aber ein Bisschen was sagt es schon aus über Lorne Michaels und wie sicher er sich in seiner Machtposition fühlt, oder? Dass der verbuchte Kontrollfreak keine Probleme damit zu haben scheint, Beiträge zu senden, die offen auf den enormen Druck anspielen, dem er seinen Cast aussetzt, und die zukünftig als Beleg herhalten könnten, dass jeder über das „System Michaels“ Bescheid weiß und sich bewusst ist, was es mit Michaels’ Untergebenen macht?

Wie auch immer: Wer zusätzlich zu der, wie gesagt, durchaus emotional effektiven Selbstbeweihräucherung der Show anlässlich des Jubiläums auch eine kritischere Perspektive lesen will, dem sei diese Übersicht von Seth Simons über seine Berichterstattung über SNL und Lorne Michaels über die Jahre empfohlen.

The escalating attacks on Wikipedia from Elon Musk and other powerful figures on the American right follow a familiar pattern. First come the claims of bias, supported by cherry-picked or misrepresented examples. Then the demands for “balance”, which in practice mean giving equal weight to fringe views or demonstrably false claims. When these demands are refused, the attacks shift to the platform’s legitimacy itself: its funding, its governance, its leaders, and its very right to exist as an independent entity.

Molly White schreibt über Elon Musks Kreuzzug gegen Wikipedia, nimmt die Argumente von Musk und anderen rechten Trollen ernster, als sie es verdienen, und verteidigt Wikipedia dagegen, inklusive Einblicken in die internen Diskussionen und Kritik aus der Community selbst.